3. Nachtgebet der Frauen in der Auferstehungskirche, Berlin
29. Mai 1985
Information Nr. 232/85 über die Durchführung eines »3. Nachtgebetes der Frauen« am 22. Mai 1985 in der Auferstehungskirche in Berlin-Friedrichshain
Am 22. Mai 1985 fand in der Zeit von 20.00 Uhr bis gegen 22.00 Uhr in Fortsetzung bereits im Jahre 1984 durchgeführter analoger Veranstaltungen1 das »3. Nachtgebet der Frauen« unter dem Motto »Gottesdienst für Trümmerfrauen«2 in der Auferstehungskirche in Berlin-Friedrichshain statt. Als Initiatoren und Organisatoren traten erneut die hinlänglich bekannten Führungskräfte der Gruppe »Frauen für den Frieden«,3 Berlin sowie Pastorin Sengespeick4 und weitere Mitglieder des Gemeindekirchenrates der Auferstehungsgemeinde in Erscheinung.
Zur Verschleierung des politischen Charakters dieser Veranstaltung wurde das »Nachtgebet« im Rahmen der Festwoche anlässlich des 90-jährigen Bestehens der Auferstehungskirche durchgeführt.
Anwesend waren ca. 200 überwiegend weibliche Personen (im Vorjahr durchschnittlich 350 Personen) im Alter zwischen 20 und 35 Jahren. Unter den Teilnehmern befanden sich die zum Kern der Gruppe »Frauen für den Frieden«/Berlin zählenden Bärbel Bohley,5 Ulrike Poppe6 und Annedore Havemann,7 die Pastoren Ruth8 und Hans-Jürgen Misselwitz/Berlin9 sowie Ralf Hirsch,10 Lutz Rathenow11 und Rüdiger Rosenthal-Teichert12 und weitere aktive Mitglieder sogenannter Frauenfriedensgruppen aus der Hauptstadt der DDR und die Vertreterin einer Schweriner Frauenfriedensgruppe.
Festgestellt wurden ferner ein namentlich bekannter Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, der in der DDR akkreditierte BRD-Korrespondent Baum13 (»Frankfurter Rundschau«) und mehrere weibliche Vertreter der kirchlichen Partnergemeinde der Auferstehungskirche aus Gelsenkirchen/BRD.
Als Vertreter der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg waren Generalsuperintendent Krusche14 und Superintendentin Laudien15 zugegen. Beide Amtsträger traten nicht in Erscheinung.
Zur vorbeugenden Verhinderung des politischen Missbrauchs der Veranstaltung wurden insbesondere Gespräche durch zuständige leitende Mitarbeiter staatlicher Organe mit Bischof Dr. Forck16 und mit dem amtierenden Superintendenten Pfarrer Schneider/Berlin-Friedrichshain17 geführt. Ihnen wurde – auch unter Bezugnahme auf die im Jahr 1984 stattgefundenen »Nachtgebete« – erneut die staatliche Erwartungshaltung, in kirchlichen Räumen ausschließlich Handlungen religiösen Inhalts und Charakters zuzulassen, erläutert. Bischof Dr. Forck sicherte zu, seine Verantwortung wahrnehmen zu wollen.
Außerdem betonte er, die Kirchenleitung versuche mit der Integration der Gruppe »Frauen für den Frieden« in die Gemeindearbeit »unerwünschte Effekte« ihrer Arbeit zu neutralisieren.
Im Ergebnis der durchgeführten vorbeugenden Maßnahmen wurden einzelne feindlich-negative Kräfte verunsichert. Dies widerspiegelte sich darin, dass sie ihre längerfristig vorbereiteten Beiträge für die Veranstaltung »entschärften«.
Inhalt und Verlauf des »Nachtgebetes« machten jedoch deutlich, dass die gegenüber den kirchenleitenden Kräften ausgesprochenen staatlichen Erwartungshaltungen von ihnen nicht eingehalten wurden. Zahlreichen Führungskräften und aktiven Mitgliedern feindlich-negativer Gruppierungen in der Hauptstadt der DDR wurde mit Wissen und Duldung kirchenleitender Kräfte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg erneut in kirchlichen Räumen die Möglichkeit einer Zusammenkunft gewährt. Die Organisatoren nutzten diese Veranstaltung analog dem Vorgehen beim »1. Nachtgebet« im Mai 1984, die Anwesenden auch durch den Einsatz von auf emotionale Wirkung abzielenden gestalterischen Mitteln in ihrem »Zusammengehörigkeitsgefühl« zu bestärken und pseudopazifistisches Gedankengut wirksam zu propagieren. Einige Aussagen in den vorgetragenen sogenannten Fürbitten enthielten zum Teil offene Angriffe gegen Teilbereiche der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung.
Zum Verlauf des »3. Nachtgebetes der Frauen« wurden folgende bedeutsame Hinweise bekannt:
Nach der Begrüßung der Teilnehmer durch die Vorsitzende des Gemeindekirchenrates, Jutta Kraeusel,18 wurde unter Regie der Pastorin Sengespeick ein »geschichtlicher Abriss zur Trümmerfrau« durch einzelne Sprecherinnen vorgetragen. Dabei wurde scheinbar wahllos aus Briefen, persönlichen Erinnerungen und Presseveröffentlichungen aus den Jahren 1945 bis 1947 zur Problematik »Trümmerfrauen« zitiert, verbunden mit dem Hinweis, es handele sich um authentisches Material »ohne Deutung ihres Stellenwertes für die Gegenwart«.
Die ohne Kommentar vorgetragenen Texte waren von der Grundtendenz her gekennzeichnet durch Hoffnungslosigkeit und Pessimismus. Bestimmte Textstellen enthielten jedoch Aussagen, die die Zuhörer offensichtlich zu Vergleichen mit der Gegenwart anregen sollten.
Es wurden u. a. solche Äußerungen getätigt:
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»Politik ist eine Gewalt. Gegen sie kann man nichts machen, dafür will ich erst recht nichts tun. Ich will auf keinen Fall mit einer Partei zu tun haben.«
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»Von der nächsten Zukunft erwarte ich nur eine Besserung der gröbsten Not; es wird uns noch jahrelang schlecht gehen.«
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»Den Frieden habe ich mir friedlicher vorgestellt. Von außen erwarte ich keine Hilfe.«
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»Meine ganze Hoffnung setze ich jetzt in die Demokratisierung; bloß keine Diktatur mehr.«
Im Anschluss daran wurden Auszüge aus einem Leserbrief an eine katholische Frauenzeitung aus dem Jahre 1946 verlesen, der die Aufforderung enthält, »alle Frauen und Mütter sollen sich zu einem Bund zusammenschließen und immer und überall den Mut besitzen, dem Krieg entgegenzutreten«. An anderer Stelle heißt es wörtlich: »Vielleicht wäre es möglich, ein Abzeichen zu tragen, welches die Trägerin auch äußerlich als Kriegsgegnerin kennzeichnet. … Gewiss wird sich der notwendige, zunächst kleine Kreis opferwilliger Frauen finden, um ein Werk ins Leben zu rufen, das sicher dazu beiträgt, die Menschheit von ihrer furchtbaren Geisel zu befreien.«
In der darauffolgenden Predigt interpretierte Pastorin Sengespeick die Ostergeschichte im »Neuen Testament« mit Anspielungen auf »militante Systeme und Diktaturen« und »Kriminalisierung von Humanisten«. Wörtlich erklärte sie: »Und alle die sich auf den Weg machten aus Liebe zum Leben, machen auch diese Erfahrung; da kann man jemanden einsperren und kriminalisieren, so wie man es mit Jesus gemacht hat, doch die Würde desjenigen wird größer sein.«
Unter Anspielung auf das Motto »Trümmerfrauen« wurden die Anwesenden im zweiten Teil der Veranstaltung von der Pastorin Sengespeick aufgefordert, die »geistigen Trümmer zu benennen, die uns die Zukunft verbauen«. Circa 30 bis 40 vor dem Altar aufgebaute Kartons, versehen mit solchen Aufschriften, wie »Hass«, »Gleichgültigkeit«, »Hierarchie«, »Gefängnisse«, »Feindbild«, »Brutalität«, »Passivität«, »Angst« und Ähnliches sollten derartige geistige Trümmer symbolisieren und im Rahmen von sogenannten Fürbitten »abgetragen« werden.
Die Mehrzahl der in diesem Zusammenhang gehaltenen Beiträge (15 Personen) beinhaltete pseudopazifistisches Gedankengut. Teilweise enthielten sie offene Angriffe, insbesondere gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane, die sozialistische Wehrerziehung19 und Zivilverteidigung und gegen das sozialistische Bildungssystem. Darüber hinaus erfolgte eine verzerrte Darstellung der Rolle der Frauen in der sozialistischen Gesellschaft und der sozialpolitischen Maßnahmen für kinderreiche Familien.
Unter Hinweis auf »persönliche Erlebnisse und Eindrücke« wurden u. a. folgende Probleme aufgeworfen:
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Die Situation an unseren Schulen habe sich weiter verschlechtert, und den Kindern werde noch immer ein militärisch motiviertes Feindbild vermittelt: In den psychologischen Beratungsstellen wachse die Anzahl der Kinder mit neurologischen Störungen weiter an.
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Erzieher und Eltern haben Kenntnis von der Einlagerung von Luftschutzmasken und ihrer Erprobung an den Schulen.
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Die für den Zivilverteidigungsunterricht verwendeten Lehrbücher an den Schulen werden unter Verschluss aufbewahrt. (In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, ob die Eltern nicht das Recht haben, »zu wissen, mit welchem Wissen ihre Kinder belastet werden«.)
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»Jede Form, ob Vor- oder Nachrüstung«, sei »verantwortlich für den Hungertod von Millionen, für Klimaerwärmung durch Umweltverschmutzung«. (Verantwortlich seien dafür »patriarchalische Machtstrukturen, Hierarchien in Parteien, Gewerkschaften, Hochschulen und in der Kirche«.)
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Das Recht auf Bildung werde gebrochen, wenn es davon abhängig ist, ob derjenige sich »loyal gegenüber der Politik dieses Staates erklärt, wenn junge Leute genötigt werden, ihre eigene Meinung zu unterdrücken«.
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Nicht alle Menschen, die einmal scheiterten (angespielt wurde auf einen Jugendlichen, der die DDR ungesetzlich verlassen hat), könne man als »Verbrecher abstempeln«.
Die Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR werden in einzelnen Beiträgen beschuldigt, »Andersdenkende zu diskriminieren und zu kriminalisieren«.
In einigen Fällen trugen die »Fürbitten« den Charakter von Forderungen. Sie wurden verbunden mit dem Appell, sich zusammenzuschließen, sich der »Diskriminierung« zu widersetzen und verstärkt Eingaben an staatliche Organe zu richten.
Die Resonanz der Anwesenden auf die »Fürbitten« war gekennzeichnet durch Beifall bzw. sarkastisches Gelächter.
Zum Abschluss wurden die Teilnehmer aufgefordert, sich an einer Kollekte für »bedürftige Frauen, die für den Frieden kämpfen« und für die »Hungernden in Äthiopien« zu beteiligen.
Nach dem MfS streng intern vorliegenden ersten Hinweisen wertete die Bohley das Ergebnis dieser Veranstaltung als nicht herausragend, aber besser als das am 7. Juni 1984 durchgeführte »2. Nachtgebet«. (In Vorbereitung und Durchführung des »2. Nachtgebetes« hatten die kirchenleitenden Kräfte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg mehr darauf Einfluss genommen, der Veranstaltung einen religiösen Charakter zu verleihen und offene Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung zu verhindern.)
In Auswertung des »3. Nachtgebetes der Frauen« werden folgende Maßnahmen vorgeschlagen:
- 1.
Der Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen, Genosse Heinrich,20 sollte auf der Grundlage einer Gesprächskonzeption mit dem Leiter des Sekretariats des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Oberkirchenrat Ziegler/Berlin,21 eine umfassende Auswertung der Veranstaltung vornehmen. In diesem Gespräch sind die dort getätigten Angriffe gegen Teilbereiche der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung als eine offene Einmischung in staatliche Angelegenheiten zu werten und entschieden zurückzuweisen. Es sollte nachgewiesen werden, dass die auf der Veranstaltung von hinreichend bekannten Personen vorgenommenen verzerrten und zum Teil verfälschten Darstellungen bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse dem Inhalt nach übereinstimmen mit den von gewissen westlichen Massenmedien ständig neu entfachten Hetz- und Verleumdungskampagnen gegen die DDR.
Gleichzeitig sollte das Unverständnis über die Nichteinhaltung der von kirchenleitenden Kräften der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gegebenen Zusicherungen hinsichtlich der Verhinderung des politischen Missbrauchs dieser Veranstaltung zum Ausdruck gebracht und erklärt werden, dass ein derartiges Verhalten im krassen Gegensatz zu den politisch realistischen Aussagen der Kirchenleitungen aller Ebenen auf den kirchlichen Veranstaltungen anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung steht. Das Gespräch sollte außerdem genutzt werden, unter Hinweis auf weitere geplante Veranstaltungen im Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Blues-Messen22 am 16. Juni 198523 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg; Friedenswerkstatt am 29./30. Juni 198524 in der Erlöserkirche) die Forderung zu erheben, dass kirchenleitende Amtsträger dieser Landeskirche stärker als bisher ihrer Verantwortung nachkommen und gegenüber den Organisatoren derartiger Veranstaltungen disziplinierend wirken.
- 2.
Durch den Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Hauptstadt der DDR für Inneres, Genossen Hoffmann,25 und durch den Leiter des Sektors für Kirchenfragen beim Magistrat der Hauptstadt der DDR, Genossen Mußler,26 sollten analog dem unter Punkt 1 genannten Vorschlag Gespräche mit dem Generalsuperintendenten Krusche bzw. mit Superintendentin Laudien geführt werden.
- 3.
Mit in Betrieben oder gesellschaftlichen Einrichtungen beschäftigten Teilnehmern am »Nachtgebet« sollten durch zuständige leitende Kader Auseinandersetzungen mit dem Ziel der Disziplinierung und der Abstandnahme von einer Beteiligung an weiteren Veranstaltungen ähnlichen Charakters geführt werden.
- 4.
In enger Zusammenarbeit der Parteiorgane mit zuständigen staatlichen Organen, Hochschuleinrichtungen in der Hauptstadt der DDR und gesellschaftlichen Organisationen sollten die Möglichkeiten der Auswahl und des Einsatzes befähigter und qualifizierter Kader bei derartigen Veranstaltungen noch intensiver genutzt und diese Kräfte umfassend über ein politisch kluges und taktisch richtiges Auftreten und Verhalten instruiert werden.
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