Äußerungen von Kirchenvertretern zum Gespräch mit Willy Brandt
23. September 1985
Information Nr. 398/85 über Äußerungen leitender Vertreter des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zum Gesprächsverlauf und zur Wertung ihrer Begegnung mit dem Vorsitzenden der SPD, Brandt, am 19. September 1985 in der Hauptstadt der DDR
Über die am 19. September 1985 in der Zeit von 18.55 Uhr bis 19.55 Uhr im Sitz des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) in Berlin stattgefundene Begegnung zwischen Brandt,1 begleitet von Staatssekretär a. D. Gaus,2 und dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR (KKL),3 Landesbischof Dr. Hempel/Dresden,4 dessen Stellvertreter, Konsistorialpräsident Stolpe/Berlin,5 und dem Leiter des Sekretariats des BEK, Oberkirchenrat Ziegler,6 wurden bisher folgende interne Äußerungen bekannt:
In einer geschlossenen Plenaraussprache zum Abschluss des 1. Beratungstages (20.9.1985) der 5. ordentlichen Tagung der IV. Synode des BEK7 in Dresden gaben Landesbischof Dr. Hempel und Konsistorialpräsident Stolpe eine Information über ihr Gespräch mit Brandt.
Dieser Information zufolge habe Brandt erklärt, dass er vom Gespräch mit Erich Honecker,8 der ein »entwickeltes Problembewusstsein« besitze, stark beeindruckt sei. Er sei darüber erstaunt gewesen, dass der Staatsratsvorsitzende umfangreiche Kenntnisse über die unter der Bevölkerung der DDR diskutierten Schwierigkeiten und Probleme hat. Im Gespräch mit Erich Honecker habe Brandt den Entspannungsprozess mit der Klärung einer »Vielzahl heikler humanitärer Probleme« durch die »Lockerung« bestehender Regelungen verbunden. Ähnliche Erfahrungen habe Brandt bei Gesprächen mit sowjetischen Politikern gemacht, wenn es um die Unterstützung der Staaten in der Dritten Welt ging.
Auf eine Anfrage von Superintendent Jaeger/Nordhausen9 in dieser geschlossenen Plenaraussprache, worin die kirchliche Zielstellung bei derartigen Gesprächen mit führenden BRD-Politikern bestehe, habe Konsistorialpräsident Stolpe geantwortet, dass es eine Aufgabe der Kirche sei, sowohl denjenigen zu helfen, die »Brücken bauen zwischen den Systemen«, als auch Klischees über die DDR abbauen zu helfen. (Als ein Beispiel solcher Klischees habe Stolpe das »Unverständnis« von Gaus für die kirchlicherseits erfolgte Ablehnung der von BRD-Politikern ersuchten Unterstützung zur Rückführung ehemaliger DDR-Bürger in die DDR charakterisiert.)10
Über weitere Einzelheiten des Gesprächs mit Brandt äußerten sich intern die am Gespräch teilgenommenen Kirchenvertreter bereits vor der oben genannten Synodaltagung.
Brandt habe gesagt, sein Gespräch mit Erich Honecker sei positiv und nützlich verlaufen; Erich Honecker sei keinem Thema ausgewichen, er habe mit ihm über alles sprechen können. Auch der Text des vereinbarten Kommuniqués11 sei gut und bemerkenswert. Brandt habe zum Ausdruck gebracht, er sei froh darüber, diesen Besuch gemacht zu haben. Bei seinen Reisen in die verschiedensten Länder – er habe Moskau und Budapest genannt und wolle demnächst nach Prag und Warschau reisen – habe er keinesfalls die Absicht gehabt die DDR dabei »auszusparen«, obwohl es bei ihm – ohne sich konkret zu äußern – »alte Wunden« gebe, was die DDR betreffe.12
Landesbischof Hempel habe bei dem Treffen zum Ausdruck gebracht, er sei von Erich Honecker ebenfalls beeindruckt. Zwischen ihnen sei der Begriff des »Grundvertrauens« geprägt worden, und er glaube, was Erich Honecker sagt – wenn er A sagt, wolle er nicht B und denke nicht C. Dem habe Gaus mit der Bemerkung zugestimmt, wenn Erich Honecker »betrügen« wolle, dann würde er das offen tun.
Gaus äußerte sich bezüglich des gesamten Ablaufes des Besuches von Brandt in der DDR sehr zufrieden.
Brandt und Hempel stimmten darin überein, es sei notwendig, weiterhin alle Kräfte im Sinne der Friedenssicherung und Abrüstung einzusetzen, aber gleichzeitig humanitäre Probleme zu besprechen und »menschliche Erleichterungen« zu erreichen. Letzteres könne nicht erst eine Nachfolgewirkung der Friedenssicherung und Abrüstung sein, sondern müsse damit einher gehen.
Brandt habe im Gespräch gesagt, mit Erlaubnis von Erich Honecker in seiner Pressekonferenz am 20. September 1985 – unter Berücksichtigung dessen, dass die DDR ein souveräner Staat ist, der seine Angelegenheiten selbst regele – zu erwähnen, dass im Sinne der Anordnung vom 15. Februar 1982 (Anordnung über Regelungen zum Reiseverkehr von Bürgern der DDR)13 weitere Verbesserungen zur Anwendung kommen werden. Anlässe für Besuchsreisen sollen erweitert und die örtlichen Organe angeregt werden, großzügiger und unbürokratischer zu verfahren. Zur Einreise von ehemaligen DDR-Bürgern in die DDR habe Erich Honecker sehr kühl und mit energischer Zurückhaltung reagiert und erklärt, es sei eine schwierige Sache, wenn heute ein DDR-Bürger erkläre, nicht mehr hier leben zu können und schon 14 Tage später wieder in die DDR einzureisen beabsichtigt.
Dieses Argument habe Brandt eingeleuchtet. (Hempel sei der gleichen Meinung.)
Auf entsprechende Äußerungen von Landesbischof Hempel, Frieden und Gerechtigkeit seien weltweite Probleme und beträfen insbesondere Entwicklungsländer, die Armen würden immer ärmer, während die USA riesige Geldsummen in ihre Sternenkriegspläne14 steckten, er Angst habe, dass sich die BRD-Regierung bedingungslos im Schlepptau der USA-Regierung befinde, habe Brandt erklärt, dass seine Partei nicht die Regierungspartei sei, aber zur Erhaltung des Friedens große Schritte unternehme. Er habe Landesbischof Hempel aufgefordert, seinerseits auf die Regierung in Bonn Einfluss zu nehmen und seine Meinung sowie die der Christen »hierzulande« darzustellen. Es sei allerdings zu berücksichtigen, dass die katholische Regierung in Bonn eine »geringe Antenne« für evangelische Kirchen habe. Sie betrachte die evangelischen Kirchen als eine »Übergangsform« und »Teufelei«. Landesbischof Hempel habe erwähnt, er sei zu einem Gespräch zu Bundeskanzler Kohl15 eingeladen worden, habe aber aus Zeitgründen bisher abgelehnt, woraufhin Gaus den Vorschlag unterbreitete, sich mit Leisler Kiep16 in der Wohnung von Gaus zu treffen. Darauf wolle Landesbischof Hempel zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen.
Brandt habe als Kontaktpartner für Verbindungen zur Bundesregierung den Präses der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands in der BRD (EKD), Schmude,17 empfohlen. Außerdem stünden seine Freunde Bahr18 und Gaus jederzeit zur Verfügung.
Im Folgenden habe Brandt das Problem des Nord-Süd-Konfliktes wieder aufgegriffen und dargelegt, dass es heute in der Welt gute Modelle gebe, wo der Hunger gebannt werden konnte. Das sei zutreffend für China, aber auch in Indien gebe es »hoffnungsvolle Zeichen«.
Bei seinen Gesprächen in Moskau19 und bei seinen Kontakten in der UdSSR sei Brandt zu diesem Problem Aufgeschlossenheit entgegengebracht worden. Seine Kontakte mit der UdSSR – er habe dabei namentlich die Genossen Gorbatschow,20 Semjonow21 und Kotschemassow,22 mit dem er während seines jetzigen Berlin-Aufenthaltes zusammengetroffen wäre, genannt – seien positiv. Er habe bei einem Gespräch mit der sowjetischen Seite gefragt, wie die ständigen deutsch-deutschen »Kungeleien« von der Sowjetunion bewertet würden und zur Antwort erhalten, »die Deutschen könnten alles machen, wenn die Sowjetunion immer dabei ist«.
Brandt erwähnte, dass während seines Gespräches mit Erich Honecker auch Wirtschaftsfragen eine Rolle gespielt hätten, ohne auf Details einzugehen. Von ihm sei positiv vermerkt worden, dass die Regierung der DDR sehr unproblematisch auf seinen Wunsch, mit leitenden Kräften der Evangelischen Kirchen in der DDR zusammenzutreffen, reagiert habe. Seine ursprüngliche Betrachtungsweise, sein Besuch in der DDR sei eine Pflichtübung, habe er zum positiven revidiert.
Bei seinen abschließenden Bemerkungen habe Brandt noch mitgeteilt, einen Brief von einem Pfarrer aus Berlin erhalten zu haben, ihn zu besuchen (keine Namensnennung), wozu er die Auffassung vertrat, so etwas doch hier nicht machen zu können.
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