Direkt zum Seiteninhalt springen

Aufklärung Bahnbetriebsunfall vom 20.6.1984 bei Delitzsch

16. Januar 1985
Information Nr. 16/85 über einige im Zusammenhang mit der Aufklärung der Ursachen eines Bahnbetriebsunfalles im Streckenabschnitt Hohenroda–Delitzsch am 20. Juni 1984 festgestellte Verletzungen der Dienstvorschrift zur Verhütung und Bekämpfung von Bahnbetriebsunfällen im Verantwortungsbereich der Reichsbahndirektion Halle

Am 20.6.1984 entgleisten 14 Güterwaggons des Güterzuges Frankfurt/Oder – Roßleben im Streckenbereich Hohenroda – Delitzsch infolge einer Gleisverwerfung. Der verursachte Schaden betrug insgesamt etwa 548 000 Mark. Der Bahnbetriebsunfall ist nach den vom MfS gemeinsam mit Experten geführten Untersuchungen zweifelsfrei auf eine Verletzung der Bestimmungen der Oberbauvorschrift der Deutschen Reichsbahn zurückzuführen.

Wie die Untersuchungen ergaben, haben Angehörige des Bauzuges 601 des Gleisbaubetriebes Bitterfeld (ein der Reichsbahnbaudirektion Berlin unterstehender Betrieb) beim Bau des lückenlosen Gleisabschnittes im Winterhalbjahr 1983/1984 (Inbetriebnahme 13.12.1983; ab 13.2.1984 erfolgte Zulassung der Geschwindigkeit auf 100 km/h)

  • Schienen teilweise nicht gelängt;1 dadurch konnten auftretende mechanische Spannungsverhältnisse im betreffenden Gleis nicht neutralisiert werden;

  • beim Verlegen des Gleises die geforderten Schweißlücken nicht eingehalten;

  • Messwerte für die Verlege- und Verspannungstemperaturen nicht den realen Tatsachen entsprechend in den Abnahmedokumenten ausgewiesen; die falschen Werte sind ohne Überprüfung von der Leitung des Gleisbaubetriebes an die Staatliche Bauaufsicht weitergeleitet worden.

Durch diese vorschriftswidrige Arbeitsweise des Gleisbaubetriebes Bitterfeld kam es am Tage des Bahnbetriebsunfalls infolge erhöhter Außentemperaturen zu Spannungen im lückenlosen Gleis und dadurch bedingt zu einer Gleisverwerfung, was letztendlich die Zugentgleisung herbeiführte.

Wie die geführten Untersuchungen ergaben, hat es die Leitung des Gleisbaubetriebes Bitterfeld unterlassen, eine ständige Kontrolle über die ordnungsgemäße Bauausführung im lückenlosen Gleis auszuüben, sodass der vorschriftswidrige Zustand nach Abschluss der Verlegearbeiten und Fertigstellung dieses Gleisabschnittes unerkannt blieb.

Wie aus der von Experten des Zentrums für Material- und Energieökonomie des Verkehrswesens angefertigten Expertise hervorgeht (technische Untersuchung von dem Ereignisort entnommenen Schweißstellen), waren die vorgeschriebenen Schweißlücken bei den Verlegearbeiten nicht eingehalten worden, dem Schweißgut vorschriftswidrig Eisenteile – »Schrott« zur Erhöhung der Stahlmasse – beigegeben worden, wodurch nicht die erforderliche Härte an den die Schienenenden miteinander verbindenden Schweißnähten entstand (Gefahr für Schienenbrüche und Haarrisse).

Darüber hinaus erfolgte – offensichtlich aufgrund unzureichender Maßhaltigkeit der Schweißstellen – eine unzulässige Auftragsschweißung mit nachträglicher Wärmebehandlung.

Auf diese Weise wurden bei der Verlegung des lückenlosen Gleises entstandene Unebenheiten bei der Schweißnaht ausgeglichen, indem eine autogene Auftragsschweißung erfolgte mit dem Ziel, die ebenflächige Befahrbarkeit der Schienenverbindung herzustellen. (Die nachträgliche Wärmebehandlung diente lediglich dazu, die Haltbarkeit der Auftragsschweißung mit der Schweißnaht zu gewährleisten.)

Die Verstöße gegen die Oberbauvorschrift zur Verlegung lückenloser Gleise wurden durch eine mangelhafte Leitungstätigkeit begünstigt. So führte das doppelte Unterstellungsverhältnis der Schweißtrupps (disziplinarisch dem Leiter des Bauzuges und fachlich der Gruppe Schweißtechnik unterstellt) u. a. dazu, dass der Leiter des Bauzuges im Interesse der Einhaltung von Terminstellungen die Schweißer auch als Gleisbauarbeiter einsetzte, sich selbst aber nicht für bei Schweißarbeiten begangene Verstöße gegen die bestehende Vorschrift bzw. die dabei aufgetretenen Qualitätsmängel fachlich verantwortlich fühlte.

Dadurch blieben die Qualitätsmängel bei der lückenlosen Gleisverlegung infolge des Unterbleibens einer konkreten Kontrolle unerkannt.

Weitere festgestellte Mängel in der Leitungstätigkeit des gesamten Gleisbaubetriebes Bitterfeld bestanden u. a. darin, dass keine Kontrolle der Arbeiten der Schweißtrupps zur Einhaltung der Qualitätsparameter und der exakten Nachweisführung über die Einhaltung der technischen und technologischen Bauvorschriften (lt. DV 820 und Anhänge)2 bestand.

Des Weiteren führte eine ausschließlich auf »Leistung« orientierte Leitungstätigkeit zur Unterschätzung der politisch-ideologischen Klärung von Grundfragen über Sicherheit, Ordnung und Disziplin sowie zu der nur unvollständigen Beachtung und Anwendung der in den Dienstvorschriften festgelegten Rechtsnormen.

Auch die Anleitung und Kontrolle der Arbeitskräfte und der mittleren leitenden Kader in den Bauzugeinheiten des Gleisbaubetriebes entsprach nicht den Erfordernissen, insbesondere fehlen dazu in den entsprechenden Funktionsplänen der Leitungskader des Gleisbaubetriebes diesbezügliche Festlegungen.

Im Ergebnis der geführten Untersuchung sind zwischenzeitlich sämtliche Schienenverlegearbeiten, die vom Gleisbaubetrieb Bitterfeld im Winterhalbjahr 1983/1984 durchgeführt wurden, nachträglich technisch überprüft worden. Weitere Mängel in der lückenlosen Gleisverlegung sind bisher nicht festgestellt worden. Dieser Feststellung steht jedoch die Tatsache entgegen, dass der Gleisbaubetrieb Bitterfeld am 28.8./29.8.1984 während einer Sperrpause (zeitlich festgelegte Betriebsruhe) der Bahnmeisterei Halle im Güterzugsauszugsgleis Nordhausen–Halle im Bereich des Güterbahnhofes Halle – im Januar 1984 verlegt – einen Spannungsausgleich durchführte. In diesem Streckenbereich hatten Angehörige des schadensverursachenden Bauzuges 601 Arbeiten zur Gleisverlegung ausgeführt.

Wie von Experten dazu eingeschätzt wird, sei diese Maßnahme so zu werten, dass offensichtlich in Kenntnis in der Vergangenheit begangener analoger Verstöße gegen die Oberbauvorschrift und den daraus resultierenden möglichen Gefährdungen für die Betriebsführung in diesem Gleisbereich zusätzlich Arbeiten durchgeführt wurden. Dadurch sollten nachträglich erkannte Mängel beseitigt werden.

Wie weiter festgestellt wurde, kam die seitens der Deutschen Reichsbahn zur Untersuchung des Bahnbetriebsunfalls eingesetzte Kommission der Reichsbahndirektion Halle und des Gleisbaubetriebes Bitterfeld im Verlauf ihrer Ermittlungen zu keinen konkreten Feststellungen bezüglich der Ursache der Gleisverwerfung.

Erst durch die im Rahmen der vom MfS initiierten Untersuchungen, vor allem durch die Einbeziehung von Experten (Eisenbahnanlagen, Institut für Eisenbahnwesen, Inspektionen für Arbeits- und Produktionssicherheit), konnten die tatsächlichen Ursachen der Entgleisung, die begünstigenden Umstände und Bedingungen zweifelsfrei geklärt werden.

Dabei zeigte sich, dass die von den Mitgliedern der Untersuchungskommission (RBD Halle/Gleisbaubetrieb Bitterfeld) geführten Ermittlungen oberflächlich durchgeführt worden waren und nicht dazu beitrugen, die tatsächlichen Ursachen und begünstigenden Bedingungen herauszuarbeiten.

Es wurden lediglich »Vermutungen« über eventuell vorliegende Verstöße gegen die Oberbauvorschrift angestellt, den Unterlagen der Staatlichen Bauaufsicht und des Gleisbaubetriebes bedenkenlos Glauben geschenkt, keine kritische Wertung der – wie zwischenzeitlich nun festgestellt – falsche Messdaten ausweisenden Unterlagen vorgenommen.

Die Durchführung bekannter Überprüfungsmethoden am lückenlosen Gleis wurde ebenfalls nicht in Erwägung gezogen.

Gründliche Untersuchungen am Ereignisort sind nicht durchgeführt worden.

Der von dieser Untersuchungskommission ermittelte Schaden wurde lediglich mit 86 000 Mark angegeben.

Wie die vorliegenden Untersuchungsergebnisse des MfS zu diesem Bahnbetriebsunfall zeigen, sind bei der konsequenten Umsetzung der in Auswertung schwerer Vorkommnisse durch das Ministerium für Verkehrswesen angewiesenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit erhebliche Mängel zugelassen worden.

Es wird deshalb vorgeschlagen, vor allem im Verantwortungsbereich des Hauptdienstzweiges Bahnanlagen und der Reichsbahndirektionen eine Reihe weiterführender Maßnahmen bezüglich der Einhaltung bestehender Vorschriften bzw. deren praktische Umsetzung einzuleiten sowie entsprechende Entscheidungen herbeizuführen.

Das betrifft insbesondere:

  • die Schulung der an der Verlegung lückenloser Gleise eingesetzten Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn sollte inhaltlich so qualifiziert werden, dass diese in die Lage versetzt werden, die vorgeschriebenen technologischen Forderungen einzuhalten;

  • die Schweißtrupps sollten fachlich und disziplinarisch – gegebenenfalls als spezielle Struktureinheiten – einheitlich unterstellt werden, um dadurch die erforderlichen Voraussetzungen für eine Selbstkontrolle und Abnahme für die von diesen Kräften verlegte lückenlosen Gleise zu schaffen;

  • die Einführung eines verbindlichen Nachweises über den Einsatz der Schweißtrupps, deren Leistungen und erreichte Qualitätskennziffern;

  • eine Überprüfung und Überarbeitung geltender Vorschriften für die Verlegung lückenloser Gleise;

  • Einleitung von Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit technischer Kontrollen und der Staatlichen Bauaufsicht zur Gewährleistung einer exakten Abnahme lückenloser Gleise nach deren Fertigstellung;

  • Erlass von verbindlichen Festlegungen für persönliche Verantwortlichkeiten zur Ursachenermittlung bei eingetretenen Schadensereignissen;

  • die Festlegung von Maßnahmen zur Auswertung von verallgemeinerungswürdigen Erkenntnissen aus den gegen die Schadensverursacher eingeleiteten strafprozessualen Maßnahmen im Zusammenwirken mit den betreffenden Rechtspflegeorganen in den Gleisbaubetrieben der Deutschen Reichsbahn.

  1. Zum nächsten Dokument Einnahmen Mindestumtausch, 14.–20.1.1985

    22. Januar 1985
    Information Nr. 40/85 über die Entwicklung. der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 14. Januar 1985 bis 20. Januar 1985

  2. Zum vorherigen Dokument Aufenthalt von Grünen-Politikern in Ostberlin am 19.12.1984s

    [ohne Datum]
    Information Nr. 13/85 über den Aufenthalt der Bundestagsabgeordneten der Partei »Die Grünen« der BRD, Dirk Schneider und Antje Vollmer, am 19. Dezember 1984 in der Hauptstadt der DDR, Berlin