Blues-Messen am 16.6.1985 in der Erlöserkirche, Berlin
18. Juni 1985
Information Nr. 255/85 über die erneute Durchführung von sogenannten Blues-Messen am 16. Juni 1985 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg
Die ursprünglich für den 5. Mai 1985 geplanten »Blues-Messen«1 wurden am 16. Juni 1985, von ca. 14.00 bis gegen 22.00 Uhr unter dem beibehaltenen Motto »Von der Befreiung zur Befreiung« mit einer Gesamtteilnehmerzahl von ca. 1 600 Jugendlichen im Alter von 16 bis 25 Jahren (1984 = 2 500 Personen) bei vier aufeinanderfolgenden Veranstaltungen mit bis zu 600 Teilnehmern je Veranstaltung ausschließlich in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg durchgeführt.
(Wie bereits durch das MfS informiert – siehe Information Nr. 207/85 vom 13. Mai 1985 – wurden die für den 5. Mai 1985 vom Vorbereitungskreis um Stadtjugendpfarrer Hülsemann2 und die hinlänglich bekannten Pfarrer Eppelmann3 und Pahnke4 in Weiterführung dieser Veranstaltungsreihe geplanten »Blues-Messen« auf Beschluss der Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg abgesetzt.
Der Charakter bisheriger derartiger Veranstaltungen, die Zusammensetzung der Teilnehmer sowie die gewählte Thematik ließen eine Störung der Vorbereitung und Durchführung der Feierlichkeiten zum Tag des Sieges und der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus am 8. Mai5 nicht ausschließen. Bezogen auf diese Entscheidung kam es in der Folge zu weiteren Auseinandersetzungen innerhalb der Kirchenleitung, in deren Resultat am 17. Mai 1985 ein erneuter Beschluss gefasst wurde. Dieser erhöht zwar die Verantwortung und mögliche Einflussnahme der Kirchenleitung auf die genannte Veranstaltungsreihe, unterstreicht aber gleichzeitig auch künftig deren ständige Durchführung. Nach dem MfS dazu intern vorliegenden Informationen wird in diesem Beschluss u. a. festgelegt, dass
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die »Blues-Messen« eindeutig einen Arbeitszweig des kirchlichen Dienstes darstellen und absolut zur kirchlichen Jugendarbeit gehören,
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die Vorbereitung und Durchführung derselben in der Verantwortung eines Vorbereitungskreises – »Kontaktgruppe« – liege,
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durch die Festlegung eines einheitlichen Konsens zwischen der Kirchenleitung und der »Kontaktgruppe« künftig kurzfristige Terminänderungen verhindert werden sollen und
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die »Vertretung« der »Blues-Messen« nach außen hin dem Generalsuperintendenten Krusche6 obliege, der bei Gesprächen mit dem Staat den zuständigen Stadtjugendpfarrer bzw. weitere von der »Kontaktgruppe« benannte Personen einbeziehe.
Im genannten Beschluss wird festgelegt, dass über den Verlauf der »Blues-Messen« der Kirchenleitung zu berichten sei.)
Zur vorbeugenden Verhinderung des politischen Missbrauchs der genannten Veranstaltungen am 16. Juni 1985 wurden die bereits mit dem Ergebnis der Terminverlegung im Zusammenhang stehenden komplexen Maßnahmen fortgeführt. So führte der Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres der Hauptstadt der DDR, Berlin, am 11. Juni 1985 ein erneutes Gespräch mit dem Leiter des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Konsistorialpräsident Stolpe,7 und dem Generalsuperintendenten Krusche. Er wies nochmals auf die umfassende Verantwortung der Kirchenleitung für die ordnungsgemäße Durchführung und die Verhinderung jeglichen politischen Missbrauchs der »Blues-Messen« hin und forderte die Kirchenleitung dazu auf, Initiativen zu ergreifen, die eine weitere Belastung des Verhältnisses Staat – Kirche wegen der »Blues-Messen« künftig ausschließen.
Krusche erklärte, dass es wegen der Verlegung des Veranstaltungstermins zu Auseinandersetzungen in der Kirchenleitung gekommen wäre und ein »völliger Verzicht« auf die »Blues-Messen« derzeit nicht möglich sei. Stolpe bezeichnete diese Auseinandersetzungen als einen »Kraftakt«, der jedoch »für« die Kirchenleitung ausgegangen sei und diese in die Offensive gebracht habe. Er erklärte, »andere« hätten gesehen, dass sie sich an »bestimmte Spielregeln« zu halten haben.
Beide kirchliche Amtsträger sicherten zu, die öffentliche Ordnung am Veranstaltungsort zu gewährleisten und 170 gekennzeichnete kirchliche Ordnungskräfte zum Einsatz zu bringen.
Im Ergebnis der Gesamtheit vorbeugend eingeleiteter Maßnahmen waren rowdyhafte oder andere, die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigende Verhaltensweisen von Teilnehmern der »Blues-Messen« im Umfeld des Veranstaltungsgeländes nicht festzustellen. (Lediglich auf dem Außengelände der Erlöserkirche kam es zu zwei Schlägereien.) Der An- und Abmarsch der Jugendlichen verlief ohne besondere Vorkommnisse. Im Gegensatz zu vorangegangenen derartigen Veranstaltungen wurde ein deutlich geringerer Alkoholmissbrauch verzeichnet.
Zur Gewährleistung eines störungsfreien Ablaufes waren 50 der insgesamt 170 von Stolpe und Krusche angekündigten kirchlichen Ordnungskräfte eingesetzt.
Als Beobachter der Leitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg waren abwechselnd Propst Winter8 und Generalsuperintendent Krusche zu den »Blues-Messen« anwesend. Festgestellt wurden ferner Stadtjugendpfarrer Hülsemann, Studentenpfarrer Elmer,9 die Pfarrer Passauer,10 Eppelmann, Pahnke und Wekel,11 weitere kirchliche Mitarbeiter sowie der Leiter der Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr von Suchtgefahren (AGAS) im Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Wittulski.12
Die »Blues-Messen« wurden von mehreren in der DDR akkreditierten Korrespondenten aus der BRD (u. a. epd, »Neue Ruhrzeitung«, WDR) sowie Mitarbeitern diplomatischer Vertretungen in der DDR (Presseattaché der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Mitarbeiter der Botschaft der USA) besucht und zu Kontakten mit jugendlichen Teilnehmern genutzt.
Zum Inhalt und Verlauf der »Blues-Messen« wurde dem MfS streng vertraulich bekannt:
Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen hielten die Veranstalter an den inhaltlichen Grundaussagen für die ursprünglich am 5. Mai 1985 vorgesehenen »Blues-Messen« fest. Damit wurden die staatlichen Erwartungshaltungen, einen politischen Missbrauch der Veranstaltungen zu verhindern, nicht erfüllt.
Obwohl in dem eingangs erwähnten Gespräch mit dem Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres der Hauptstadt der DDR, Berlin, Generalsuperintendent Krusche erklärte, die vorgesehenen Texte seien »ausgewogen« und Konsistorialpräsident Stolpe ergänzend feststellte, insgesamt sei diesbezüglich »eine Verbesserung feststellbar«, beinhalteten die verwandten Texte Aussagen, die geeignet sind, das Verhältnis Staat – Kirche zu belasten.
Obwohl in den Sprech- und Liedtexten eindeutige und offene politische Aussagen vermieden wurden und somit die Teilnehmer nur geringfügig im Sinne der Inspirierung oppositioneller Auffassungen und Haltungen gegen den Staat beeinflusst wurden, beinhalteten die Vorträge raffiniert eingearbeitete, vorwiegend religiös verbrämte Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR sowie unter Bezugnahme auf den »Tag der Befreiung« Angriffe und Aussagen gegen das Bündnis UdSSR – DDR.
Nach ersten vorliegenden Erkenntnissen war ein erheblicher Teil der Jugendlichen bedingt durch den intellektuellen, religiös verbrämten Inhalt der »Blues-Messen« geistig überfordert und resultierend daraus mit den Veranstaltungen unzufrieden.
In Anlehnung an frühere Veranstaltungen wurden die »Blues-Messen« »jugendgemäß«, insbesondere bezogen auf Texte, Jargon und Musik, durchgeführt. Dargeboten wurde eine Folge verschiedener Programmpunkte (Begrüßung, Bluestitel, Sketche, Fürbitten). Als Darsteller fungierten Pfarrer Eppelmann, Jugenddiakon Syrowatka13 und Jugendwart Jäger.14 Biblische Zwischentexte wurden von einem kirchlichen Laien gelesen.
Im Folgenden einige bedeutsame Aussagen:
In einem Sketch wurde »Rückblick« auf die vierzig Jahre nach 1945 gehalten und u. a. ausgeführt, die Hoffnungen, mit denen die Befreiung verbunden war, sei für viele »der Zusammenbruch ihrer Ideen und Illusionen geworden«.
»Leider haben die Befreier auch nicht immer wie Befreier gehandelt«. Der Hunger wäre zwar besiegt, aber Deutschland sei gespalten worden, z. B. … »in eine eingesperrte Stadt« und Grenzen seien durch »Stacheldraht, Gräben und Mauern« am 13. August 1961 dichter geworden.
In einem weiteren Sketch wurde formuliert, dass »wir befreit wurden von so manchem, was wir behalten wollten, aber freigeworden sind wir noch immer nicht. … Gefangene, gedankenlose, ängstliche Gefangene sind auch wir!«
Durch das mittels Dias erfolgte wiederholte Einblenden des Bibelzitates, »und das Volk murrte«, wurde der Eindruck des angeblichen Widerspruches eines Großteils der Bevölkerung mit der aufgezeigten Lage erweckt.
In einem »Gebet« wurde erklärt, »wir« hätten zwar die »Freiheit zum Leben«, sogar im materiellen Wohlstand, aber es sei zu beklagen, dass Meinungs- und Reisefreiheit nicht garantiert seien; »Gottes Freiheit« müsse immer wieder verwirklicht werden, ob in der Gruppe, in der Kirche, in der Schule oder im Betrieb.
In einem Sketch mit »Ausblick auf die Zukunft« wurde dargestellt, wie der 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ, Eberhard Aurich,15 Pfarrer Eppelmann, ein Langhaariger und ein Punker gemeinsam nach Karten zu einem Konzert im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft anstehen, in dem eine sowjetische Rockformation und das Panikorchester von Udo Lindenberg16 zusammen auftreten. Als konkrete Wünsche, die bis 1995 realisiert werden sollten, wurde vorgeschlagen, den Russisch- und Englischunterricht fakultativ zu gestalten und den visafreien Reiseverkehr in alle sozialistischen Staaten zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang wurde das »Verbot« der Reisen in nichtsozialistische Länder bedauert.
(Alle Sprechtexte waren in der Erlöserkirche aufgrund unzureichender Technik schwer zu verstehen.)
Das Musikprogramm wurde u. a. durch die Formation »fade out« gestaltet (vier Berufsmusiker; alle haben Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD17 gestellt).18
Die Veranstalter hielten sich an die Zusage, kein Außenprogramm für auf dem Kirchengelände wartende Zuschauer durchzuführen. Vor der Kirche war lediglich ein »Infostand« aufgebaut, an dem auf künftige kirchliche Veranstaltungen verwiesen wurde.
Ein neuer Termin für eine »Blues-Messe« wurde nicht bekannt gegeben.
Internen Hinweisen zufolge zeigten sich Veranstalter hinsichtlich der unter den Erwartungen liegenden Teilnehmerzahl an den »Blues-Messen« unzufrieden.
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