Einleitung 1985
Einleitung 1985
Florian Schikowski
1. Das Jahr 1985: ein historischer Überblick
Im Jahr 1985 gab es für die Stasi etwas zu feiern. Mit einem »eindrucksvollen Kampfmeeting« im Palast der Republik beging die Geheimpolizei am 6. Februar den 35. Jahrestag ihrer Gründung. Das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« hob das normalerweise im Geheimen agierende MfS, inklusive eines gemeinsamen Fotos von Erich Honecker und dem Minister für Staatssicherheit Erich Mielke auf die Titelseite. Für »vorbildliche Pflichterfüllung« verlieh der SED-Chef dem MfS mit dem Karl-Marx-Orden die höchste Auszeichnung der DDR und würdigte damit die »hervorragenden Leistungen der Angehörigen des Ministeriums im erfolgreichen Kampf für die Stärkung und den Schutz der Arbeiter-und-Bauern-Macht und die Erhaltung des Friedens«.1 Damit lief der an staatlichen Ritualen und offiziellen Feierlichkeiten reiche sozialistische Alltag in der DDR im Jahr 1985 auch für das MfS vergleichsweise normal. Unterschwellig waren zu diesem Zeitpunkt jedoch schon die meisten Krisensymptome spürbar, die rund fünf Jahre später zum Ende der DDR führen sollten.
Retrospektiv betrachtet erscheint das Jahr 1985 in der DDR als ein Übergangsjahr. Auf der einen Seite waren die für die späte DDR prägenden Krisenerscheinungen, die seit dem Ende der 1970er-Jahre immer offener zutage traten, inzwischen zu einer gewissen Normalität geworden. Die DDR-Wirtschaft litt unter mangelnder Wettbewerbsfähigkeit am internationalen Markt, einem massivem Investitionsstau, der u. a. in den hohen Subventionen für Konsumgüter des alltäglichen Bedarfs begründet lag, und chronischem Devisenmangel.2 Gleichzeitig erodierten die gesellschaftlichen Bindungskräfte der SED-Herrschaft kontinuierlich, ohne dass dies zeitgenössisch unbedingt als gravierende Entwicklung wahrgenommen werden musste. Vielmehr lassen sich im Rückblick subkutane Veränderungen anhand verschiedener Indikatoren zu einem Muster verdichten, das die gesamten 1980er-Jahre prägte.3 So verzeichnete die SED seit den frühen 1980er-Jahren eine im Verhältnis zu ihren absoluten Mitgliederzahlen zwar sehr kleine, aber wachsende Welle an Parteiaustritten und Parteiausschlussverfahren, 1988 musste sie sogar erstmals seit 1955 eine gesunkene Gesamtmitgliederzahl hinnehmen.4 Unterdessen etablierten sich immer mehr »politisch alternative Gruppen«, die sich in der Regel im Umfeld der evangelischen Kirchen als Friedens-, Umwelt-, Frauen-, Menschenrechts- oder sogenannte Dritte-Welt-Gruppen stetig zu einem kleinen Milieu verfestigten, das den Nährboden für eine unabhängige Opposition gegen die SED-Herrschaft zu bilden begann.5 Die angespannte Versorgungslage, die den Zugang zur D-Mark als Quasi-Zweitwährung immer wichtiger werden ließ, um Konsumbedürfnisse zu befriedigen, sorgte selbst bei SED-Kadern für wachsenden Unmut.6 Dazu kamen die immer augenscheinlicher werdenden Umweltschäden, die zunehmend die Zukunftsfähigkeit der DDR-Wirtschaft sicht- und spürbar infrage stellten. Darüber hinaus demoralisierte die enge Kooperation mit dem antikommunistischen CSU-Politiker Franz-Josef Strauß die parteiloyalen Bevölkerungsteile, die bereits die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre kritisch betrachtet hatten.7 Zwar konnten die 1983 und 1984 von Strauß vermittelten Milliardenkredite aus der Bundesrepublik die DDR-Volkswirtschaft ein Stück weit stabilisieren, indem sie einen Staatsbankrott abwendeten, doch die grundlegenden strukturellen Probleme, in denen das Land steckte, waren damit nicht gelöst.8
Auf der anderen Seite hatten die Reformbemühungen des neuen KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow in der Sowjetunion, die unter den Stichworten »Glasnost« und »Perestroika« als entscheidende externe Faktoren gegen Ende der 1980er-Jahre die finale Krise der DDR und der anderen sozialistischen Diktaturen in Ost- und Mitteleuropa auslösen sollten, noch nicht begonnen.9 In der Folge wirkt das Jahr 1985 für die DDR als ein Jahr ohne größere Eruptionen im inzwischen normalen Krisenmodus, bevor im darauffolgenden Jahr die Tschernobyl-Katastrophe und die nun offensichtlich werdende Reformagenda des neuen Machthabers in Moskau die europäische Nachkriegsordnung ins Wanken brachten.
Der Machtantritt des neuen Parteichefs in der Sowjetunion im März war sicherlich die entscheidende historische Weichenstellung des Jahres 1985 – nicht nur für die DDR. Jedoch war mit dem Amtsantritt Gorbatschows überhaupt nicht absehbar, welche Auswirkungen seine späteren Reformbemühungen haben würden. Die allermeisten Menschen in der DDR wussten fast nichts über den gerade einmal 54-jährigen neuen starken Mann im Kreml. Selbst die SED-Führung war überrascht von der schnellen Festlegung des Politbüros auf Gorbatschow, den sie zu diesem Zeitpunkt nur schwer einschätzen konnte.10 Gorbatschow fiel jedoch durch sein vergleichsweise junges Alter auf, das sich auch in seiner weltläufigen, vitalen und geistesgegenwärtigen Ausstrahlung ausdrückte.11 Gorbatschow beendete die Herrschaft der kranken Greise im Kreml, nachdem mit Breschnew, Andropow und Tschernenko gleich drei altersschwache KPdSU-Generalsekretäre in nicht einmal zweieinhalb Jahren verstorben waren. Allein die Aussicht, dass nun jemand für einen längeren Zeitraum die Geschicke des östlichen Machtblockes leiten könnte, sorgte für hohe Erwartungen an den neuen KPdSU-Generalsekretär.12
Mit seinem Amtsantritt verbanden sich zum Beispiel Hoffnungen auf eine Entspannung zwischen den Machtblöcken: Auf die Stationierung der nuklearen SS-20-Mittelstreckenraketen durch die Sowjetunion in Mitteleuropa hatte die NATO 1979 mit dem sogenannten Doppelbeschluss reagiert.13 Der Kalte Krieg spitzte sich zu: Ein neuer Rüstungswettlauf mit Atomraketen begann und die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979 sowie der Machtantritt des konservativen Hardliners Ronald Reagan als US-Präsident 1981, der wiederum ein Aufrüstungsprogramm im Weltall vorantrieb,14 taten ihr Übriges, um Ängste vor einer atomaren Eskalation zwischen den Supermächten zu schüren. Nun – im Jahr 1985 – zeichnete sich erstmals wieder eine mögliche Annäherung zwischen der Sowjetunion und den USA ab. Schon Gorbatschows Vorgänger im Amt, Konstantin Tschernenko, hatte neue direkte Gespräche mit den USA angestrebt, doch erst im November 1985 sollten sich Gorbatschow und Reagan auf neutralem Boden in Genf erstmals treffen, um wieder in einen Dialog zwischen den Supermächten zu kommen. In der DDR verbanden die unabhängige Friedensbewegung und kirchliche Amtsträger, aber auch die SED, Hoffnungen auf Abrüstung mit den Gesprächen.15 Diese Erwartungen schlugen sich auch in der Berichterstattung der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe der Staatssicherheit (ZAIG) an die Staats- und Parteiführung nieder.16 Darüber hinaus spielt der neue KPdSU-Generalsekretär in den ZAIG-Informationen aus dem Jahr 1985 kaum eine Rolle.17 Das Gipfeltreffen in Genf brachte außer unverbindlichen Absichtserklärungen und der Vereinbarung, weitere direkte Gespräche führen zu wollen, zwar keine greifbaren Ergebnisse, doch die Tatsache, dass es diesen Dialog nun gab und dass sich Gorbatschow und Reagan offenbar persönlich mit einer gewissen Sympathie begegnen konnten, war im Vergleich zur konfrontativen Atmosphäre der Jahre zuvor ein nicht unbedeutender Schritt in Richtung Abrüstungsverhandlungen.18 Nur zwei Monate nach dem Gipfeltreffen in Genf unterbreitete Gorbatschow erste konkrete Vorschläge zur atomaren Abrüstung und nährte damit Hoffnungen auf eine grundlegende Entspannung zwischen den beiden Machtblöcken.19
Im Jahr 1985 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum 40. Mal. In beiden deutschen Staaten wurden gesellschaftliche Debatten über die Bewertung der deutschen Niederlage im Krieg geführt. In der Bundesrepublik sorgte die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker anlässlich des 8. Mai im Bundestag für Aufsehen. Mitte der 1980er-Jahre befand sich die westdeutsche Gesellschaft in einer »Transformationsphase des Gedenkens«, in der die bundesdeutsche Öffentlichkeit, befeuert durch einen generationellen Umbruch, ihr historisches nationalsozialistisches Erbe neu ausverhandelte.20 Besonders aufsehenerregend war in Weizsäckers Rede die Bezeichnung des 8. Mai als »Tag der Befreiung« – eine Formulierung, die die offizielle DDR-Geschichtspolitik für das Kriegsende bereits seit Jahrzehnten verwendete, in der Bundesrepublik jedoch aus dem Munde des Staatsoberhauptes eine bemerkenswerte Akzentverschiebung bedeutete.21
Auch in der Berichterstattung der ZAIG nahm das Thema vergleichsweise breiten Raum ein und dafür gab es mehrere Gründe. Derartige Jahrestage spielten im Antifaschismus-Mythos der offiziellen DDR-Geschichtspolitik eine zentrale Rolle. Mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen und öffentlichen Bekenntnissen, mit historischen Filmen und Publikationen bis hin zu Sonderbriefmarken unterstrich der SED-Staat seine Legitimität. Die SED begründete ihre Herrschaft mit dem Sieg über den Faschismus, den sie in erster Linie der sowjetischen Roten Armee zuschrieb: Die historische Mission der »Diktatur des Proletariats« war es demnach, ein Wiedererstarken des Faschismus zu verhindern, um den Weltfrieden zu sichern.22 Darüber hinaus dienten die Beschwörungen der historischen Erfolge der Roten Armee dazu, das Bündnis der DDR mit der sowjetischen Schutzmacht kontinuierlich zu bekräftigen. Das Gedenken an das Kriegsende 1945 beschränkte sich aber nicht auf offizielle und staatstragende Institutionen und Anlässe. Auch in den Kirchen und den zahlreichen Friedensgruppen wurde das Ereignis zum Anlass genommen, um sich intensiv mit Friedens- und Abrüstungsfragen auseinanderzusetzen. Die »Frauen für den Frieden« nutzten bei ihrem 3. »Nachtgebet der Frauen« im Mai 1985 etwa den historischen Mythos der »Trümmerfrau«, um die eigene Rolle als Frauen im SED-Staat zu reflektieren.23 Auch in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen fand eine lebhafte Debatte unter den Synodalen statt, nachdem der Landesbischof Werner Leich eine mit der DDR-offiziellen Erinnerungskultur kompatible Stellungnahme zum 8. Mai vorgetragen hatte. Zur Sprache kam dabei beispielsweise das Speziallager, das der sowjetische NKWD bis 1950 auf dem Gelände des vormaligen KZ Buchenwald betrieb.24 An dieser Stelle zeigt sich, dass sich auch jenseits der in dieser Phase wachsenden Neonazi-Szene25 Risse in der »entdifferenzierten Bekenntnisideologie«26 des Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR auftaten.
Im Jahr 1985 wurde nicht nur der 8./9. Mai selbst groß begangen, sondern auch weitere vierzigste Jahrestage im Zusammenhang mit den letzten Kriegsmonaten. So besuchte beispielsweise Erich Honecker gemeinsam mit Ehrengästen aus dem In- und Ausland die feierliche Eröffnung der wiederaufgebauten Semperoper am symbolträchtigen Jahrestag der Zerstörung Dresdens durch britische und US-amerikanische Bomber am 13. Februar 1945.27 Das »Neue Deutschland« widmete dem Jahrestag und der Eröffnung des berühmten Opernhauses das gesamte Titelblatt und zwei Drittel der zweiten Seite der Ausgabe vom 14. Februar 1985.28
Bei den Gedenkveranstaltungen in Dresden begegneten sich mehrere, für die 1980er-Jahre charakteristische Entwicklungen in der DDR. Das offizielle Gedenken inklusive abendlicher FDJ-Mahnwache an der Ruine der Frauenkirche war seit 1983 die Reaktion auf eine unabhängige Initiative, die von einem kirchennahen Friedenskreis ausgegangen war. 1982 waren mehrere Hundert der bis zu 5 000 überwiegend jungen Menschen, die an einer kirchlichen Gedenkveranstaltung in der Kreuzkirche teilgenommen hatten, dem Aufruf zum Gedenken an der Ruine der Frauenkirche gefolgt, hatten Kerzen angezündet und Friedenslieder gesungen.29 Der Schweigemarsch von der Kreuzkirche zur Frauenkirchenruine war eine der größten Aktionen der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR überhaupt.30 In den Jahren darauf versuchten staatliche Akteure (im Zusammenspiel mit der evangelischen Kirche), den Gedenktag voll und ganz zu kontrollieren und die neuralgischen Orte in der Innenstadt mit eigenen Veranstaltungen quasi zu besetzen, um derartige unabhängige Initiativen zu verhindern. Damit hatte eine politisch alternative Initiative den Anstoß für eine neue Erinnerungs- und Gedenkkultur in der Stadt gegeben, mit der sich auch staatliche Akteure zumindest auseinandersetzen mussten. Darüber hinaus verweist der Wiederaufbau des Opernhauses auf die DDR-Kulturpolitik der Ära Honecker, die darauf ausgerichtet war, in der DDR eine »sozialistische Nationalkultur« zu entwickeln, die als progressiv gewertete Aspekte der deutschen Geschichte als positives Erbe aufnehmen sollte.31 Diese Öffnung für historische Bezüge über die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Antifaschismus hinaus hatte 1983 im Lutherjahr die staatliche Würdigung des Erbes der Reformation ermöglicht, genau wie zuvor ein Preußen-Revival 1981 und eben die Rekonstruktionen historischer Gebäude – wie der Semperoper oder auch am Platz der Akademie (heute wieder Gendarmenmarkt) in Berlin.32
Die größte politische Erschütterung des Jahres 1985 in der DDR ereignete sich im Herbst. In kurzer zeitlicher Abfolge kam es zu zwei personellen Abgängen innerhalb des engsten SED-Machtzirkels, dem Politbüro. Die offiziell freiwilligen Rücktritte aus gesundheitlichen Gründen von Herbert Häber, dem Leiter der ZK-Westabteilung, und Konrad Naumann, dem Berliner SED-Bezirkschef, von allen politischen Ämtern wurden im Zuge der 11. Tagung des ZK der SED am 22. November offiziell bestätigt. Sie schlugen sich, ähnlich wie Gorbatschows Machtantritt, in der innenpolitischen Berichterstattung des MfS an die Staats- und Parteiführung kaum nieder, waren jedoch eine nicht unerhebliche Eruption innerhalb der SED-Führung. Wie MfS-interne Berichte über die Stimmung in der Bevölkerung zeigen, sorgte die Absetzung der beiden Spitzenfunktionäre für einige Spekulationen über Konflikte innerhalb des Machtapparates, mögliche neue politische Ausrichtungen der SED und persönliche Verfehlungen der beiden geschassten Funktionäre.33 Personelle Veränderungen im engsten Machtzirkel waren selten, vor allem Abgänge, die nicht durch Altersschwäche oder Tod zustande kamen,34 waren in dieser Phase die Ausnahme. Die zeitliche Nähe der »Rücktritte« Häbers und Naumanns musste da beinahe zwangsläufig zu Spekulationen über einen Zusammenhang zwischen den Personalien führen, auch wenn es sich tatsächlich um eine zufällige zeitliche Koinzidenz zweier voneinander getrennter Fälle handelte.35 Während für Naumanns Demission ein handfester politischer (wenn auch individuell verursachter) Skandal, der von der SED-Spitze möglichst vertuscht werden sollte, ursächlich war, waren die Hintergründe für Häbers Ablösung komplizierter, sahen jedoch wie das Ergebnis eines möglichen politischen Richtungsstreites zwischen der SED-Führung in Ostberlin und der KPdSU in Moskau aus.
Herbert Häber, der zu diesem Zeitpunkt erst seit ca. anderthalb Jahren Mitglied des Politbüros war, galt als enger Vertrauter Honeckers. Er war zuständig für die dem SED-Generalsekretär wichtigen Beziehungen zur Bundesrepublik und damit zentraler Akteur auf einem Politikfeld, auf dem es in dieser Phase erhebliche Spannungen zwischen Moskau und Ostberlin gab. Die sowjetische Führung blickte misstrauisch auf die deutsch-deutschen Beziehungen.36 Im August 1984 hatte Honecker eine von Häber ausgearbeitete Konzeption für eine intensivere Deutschlandpolitik der SED, inklusive einer geplanten offiziellen Besuchsreise Honeckers in die Bundesrepublik, in Moskau vorgestellt und war von Tschernenko brüsk zurückgewiesen worden. Häber verbreitete später die Theorie, Honecker habe sich seiner entledigen wollen, weil Häber für eine eigenständige – von Moskau abgelehnte – Deutschlandpolitik gestanden habe.37 Andreas Malycha hat diese Theorie jedoch entkräftet und stattdessen eine Gemengelage aus mehreren Faktoren als Grund für die Absetzung Häbers diagnostiziert.38 Am stärksten akzentuiert er dabei, dass Häber tatsächlich gesundheitlich angegriffen war und es Zweifel daran geben musste, ob er den Anforderungen eines politischen Spitzenamtes gerecht werden konnte. Dazu passen Häbers längere Krankenhausaufenthalte vor und nach seiner Absetzung, auch wenn diese Behandlungen später oft als »Zwangseinweisung« aus politischen Gründen gedeutet wurden. Darüber hinaus gab es vor allem im Sicherheitsapparat Vorbehalte gegenüber dem politischen Aufsteiger, die in erster Linie in der Vielzahl von für das MfS schwer zu kontrollierenden persönlichen Westkontakten begründet waren. Außerdem könnte noch ein »Disziplinbruch« Häbers den finalen Ausschlag gegeben haben, der in einer gedankenlosen Bemerkung über mögliche Dissonanzen zwischen Moskau und Ostberlin hinsichtlich der Beziehungen zur Bundesrepublik bestand, die bei Honecker Missfallen auslöste. Nach dem Aus Häbers übernahm Hermann Axen als Politbüro-Mitglied zusätzlich zu seinen außenpolitischen Kompetenzen die Zuständigkeit für die Deutschlandpolitik.
Konrad Naumanns Ende im Politbüro und als Berliner SED-Chef lässt sich eindeutiger erklären: Ihm wurde eine Rede, die er am 17. Oktober 1985 an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED hielt, zum Verhängnis.39 Naumann, der aufgrund seiner wiederholten Kritik an den Kulturschaffenden und seiner dogmatischen Haltung in kulturpolitischen Fragen bei den Künstlerinnen und Künstlern des Landes verhasst war, wegen seiner direkten, anpackenden Art zu kommunizieren jedoch bei Arbeiterinnen und Arbeitern ein gewisses Ansehen hatte, steigerte sich in seiner Rede in eine Tirade gegen die Kulturschaffenden und die Wissenschaft im Land und zog auch darüber hinaus flapsig gegen tatsächliche und gegen andere seiner Meinung nach existierende Missstände vom Leder. Naumann, der wie Häber als Vertrauter Honeckers galt, betrachtete sich selbst als unantastbar und erlaubte sich immer wieder Anfälle von Selbstherrlichkeit und private Eskapaden. Die Rede, die sich damit eigentlich in sein sonstiges Wirken einfügte, führte zu seiner Absetzung, weil Erich Honecker bei einem Staatsbesuch in Ungarn vom dortigen KP-Chef auf Naumanns Ausfälligkeiten vor der Akademie der Gesellschaftswissenschaften angesprochen wurde. Nun musste sich Honecker mit dem Thema auseinandersetzen, wollte er den Eindruck vermeiden, er habe seine Partei nicht im Griff. Günter Schabowski, der Naumann als Berliner SED-Chef beerbte, schrieb später, dass die Aussprache über Naumanns »parteischädigendes Verhalten« ausnahmsweise einmal zu offenen und emotionalen Auseinandersetzungen im Politbüro geführt hätte, wo ansonsten Beschlüsse einfach abgesegnet wurden.40
Freilich veränderten die beiden personellen Abgänge im Politbüro nichts Grundsätzliches am Machtgefüge innerhalb der SED-Führung. Honecker blieb unangefochten der starke Mann. Trotz der offenen Aussprache im Fall Naumann entwickelte das Politbüro keine neue Debattenkultur. Genauso wenig änderten sich die deutschlandpolitischen Ambitionen Honeckers, der weiter auf einen Staatsbesuch in Bonn hoffte. Die Fälle Häber und Naumann ließen sich theoretisch sowohl als Schwächung Honeckers, der zwei Vertraute gehen lassen und damit zumindest indirekt personelle Fehler eingestehen musste, als auch als Stärkung Honeckers, der sich als handlungsfähig erwies und hart durchgreifen konnte, interpretieren. Die beiden Fälle zeigen aber auch, wie die SED-Führung im finalen Krisenjahrzehnt der DDR getrieben von systeminternen Machtlogiken um sich selbst kreiste.
2. Ausgewählte Themenfelder der Berichte
2.1 Überragendes Thema für das MfS: die evangelische Kirche
Die Berichterstattung über Vorgänge in und um die evangelische Kirche bildete im Jahr 1985 – wie insgesamt im letzten Jahrzehnt der DDR – einen absoluten Schwerpunkt der Stasi-Berichterstattung an die Staats- und Parteiführung. Von der absoluten Zahl aller innenpolitischen Berichte, inklusive der MfS-internen K- und O-Reihen, machten die evangelischen Kirchenberichte mit 47 von 194 fast 25 Prozent aus. Mit 41 der insgesamt 85 Informationen (ohne die periodische Standardberichterstattung etwa über den Umtausch von Westwährung und die Besuchszahlen aus dem Ausland gerechnet) entfiel auf die Berichterstattung zur evangelischen Kirche sogar fast die Hälfte der Informationen aus dem Jahr 1985. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich in dieser Rechnung sowohl Berichte über die Treffen offizieller Führungsgremien der Kirchen als auch über Treffen und Aktionen politisch alternativer oder gar oppositioneller Gruppen im kirchlichen Rahmen subsummieren. Offizielle Gremien behandelten 24 MfS-Informationen, mit den Gruppentreffen der kirchennahen Friedens-, Frauen-, Menschenrechts- und Umweltgruppen befassten sich insgesamt 23 Informationen (darunter wiederum sechs K-Berichte). Die katholische Kirche wurde im Jahr 1985 in neun Berichten behandelt. Dabei thematisierten allesamt offizielle katholische Kirchen-Gremien bzw. -Veranstaltungen.41
Die evangelische Kirche war die einzige große gesellschaftliche Institution, die sich eine gewisse Unabhängigkeit von staatlicher Kontrolle bewahrt hatte und damit eine (Teil-)Öffentlichkeit darstellte, in der sich eine Form demokratischen Pluralismus erhalten hatte. Die SED bediente sich im Umgang mit der evangelischen Kirche einer Doppelstrategie, bestehend aus offizieller Kooperation und konspirativer Einflussnahme, die damit zum Aufgabenfeld des MfS gehörte.42 Bei den Berichten zu offiziellen Gremien und Veranstaltungen der evangelischen Kirchen handelte es sich größtenteils um Quasi-Standardreihen, die sich mit den periodischen Sitzungen der Leitungsgremien befassten. Das waren zum einen die Synoden der evangelischen Landeskirchen sowie des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen sowie die Tagungen der Konferenz der Kirchenleitungen und zum anderen auch die Tagungen der kleineren evangelischen Kirchen wie die der Konferenz der Evangelisch-Methodistischen Kirche in der DDR. Diese institutionellen Zusammenkünfte deckte die ZAIG grundsätzlich mit Berichten ab, sodass eine konstante Berichtsserie entstand.43 Die Informationen für die Kirchenberichte erhielt die ZAIG (zumindest teilweise) von der kirchenpolitischen Abteilung des MfS (HA XX/4), die wiederum aus den jeweiligen Bezirksverwaltungen mit Informationen beliefert wurde.44 Beispielhaft lässt sich das nachvollziehen an der Information über die 8. Tagung der XVIII. Landessynode der Evangelischen Landeskirche Anhalts vom 18. November 1985:45 Der Großteil der Textabsätze (in veränderter Reihenfolge) stammte aus einem u. a. an die ZAIG adressierten Bericht der HA XX/4 vom 7. November 1985 »über Verlauf und Ergebnisse der 8. Tagung der 18. Landessynode der Evangelischen Landeskirche Anhalts vom 1. bis 2.11.1985 in Dessau«.46 Als Quelle verwies dieser Bericht auf ein (nicht näher spezifiziertes) Fernschreiben der Bezirksverwaltung Halle.
Neben den periodisch tagenden Kirchengremien widmeten sich Berichte besonderen Ereignissen im Kontext offizieller kirchlicher Veranstaltungen und Entwicklungen. Eine herausgehobene Stellung im Jahr 1985 nahm dabei das Treffen Erich Honeckers mit dem Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, vertreten durch den Dresdner Landesbischof Johannes Hempel, im Februar ein. Es war erst das zweite Spitzentreffen zwischen SED-Führung und Kirchenleitung nach dem ersten Treffen vom 6. März 1978, das im Prinzip die Idee einer »Kirche im Sozialismus« zum Programm von SED und evangelischer Kirchenleitung erhoben hatte.47 In erster Linie diente das Gespräch 1985 zwischen Bischof Hempel und dem SED-Generalsekretär im Staatsratsgebäude in Ostberlin dementsprechend auch der Bekräftigung des Weges von 1978. Das »Neue Deutschland« schrieb auf der Titelseite dazu: »Der freimütige und vom Geist des Verstehens getragene Gedankenaustausch diente der Bestätigung des Prozesses sachlicher, offener, konstruktiver und verfassungsgerechter Beziehungen zwischen Staat und Kirche, wie sie in der Begegnung vom 6. März 1978 einen besonderen Ausdruck gefunden haben.«48 Grundlegende neue Entwicklungen im Verhältnis Kirche – Staat gingen nicht vom Treffen aus. Inhaltlich sprachen beide Seiten über tagespolitische Entwicklungen wie den nahenden 40. Jahrestag des Kriegsendes und den Rüstungswettstreit zwischen der Sowjetunion und den USA. Es war vielmehr die Botschaft, dass ein solches Treffen überhaupt stattfand und dann auch noch harmonisch verlief, die beide Seiten aussenden wollten. Es ging sowohl Kirchenleitung als auch Staatsmacht darum, Stabilität im (potenziellen) Spannungsverhältnis zwischen Kirche und sozialistischem Staat zu erhalten. Die Kirchenleitung hatte sich im Status Quo eingerichtet, weil die Entwicklungen der 1970er-Jahre nach den antikirchlichen Kampagnen und den damit verbundenen Unsicherheiten der Ulbricht-Ära doch zumindest eine gewisse Autonomie und Verbindlichkeit für das eigene Wirken garantierten.49 Die SED unter Honecker war wiederum an einer Kirche interessiert, die aus Sorge um das stabile Verhältnis zur Staatsmacht kontrollierend und mäßigend auf die sich in ihr organisierenden unabhängigen Friedens-, Umwelt-, Frauen- und Menschenrechtsgruppen einwirkte. Außerdem hatten offene Konflikte mit der Kirche das Potenzial, Honeckers Bemühungen um internationale Anerkennung zu gefährden.50
Zwei ZAIG-Informationen befassten sich mit den kircheninternen Reaktionen auf das Gespräch zwischen Hempel und Honecker. Am 15. Februar – nur vier Tage nach dem Treffen – verschickte die ZAIG einen relativ knappen Bericht über »erste interne Reaktionen des Vorstandes der Evangelischen Kirchenleitungen« zum Spitzengespräch an den Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der SED, Rudi Bellmann, und den für Kirchen zuständigen Staatssekretär Klaus Gysi sowie an Erich Honecker persönlich.51 Dieser Bericht schilderte die ganz unmittelbaren Reaktionen der Führungsspitze der evangelischen Kirche in der DDR auf das Treffen sowie Hempels Selbsteinschätzung seines Auftrittes beim SED-Generalsekretär. Der zweite, doppelt so lange Bericht vom 27. Februar behandelte dagegen vor allem allgemeinere Eindrücke, Stimmungen und Emotionen, die das Treffen in weiteren (teilweise nicht konkret genannten) Kirchenkreisen ausgelöst habe.52 Diesen längeren Bericht erhielt bei ansonsten gleichem Außenverteiler wie beim ersten auch der ZK-Sekretär für Kirchenfragen Werner Jarowinsky. Die beiden Berichte zeichnen ein insgesamt positives Bild, das sich Kirchenvertreter vom Spitzentreffen machten – und gaben der Parteiführung damit ein positives Feedback, für deren politische Strategie im Umgang mit der evangelischen Kirche. Demnach habe Hempel »ein weiter angewachsenes Vertrauen zwischen Staat und Kirche« und eine »hohe Qualität« des Respekts wahrgenommen.53 Dass die beiden Berichte an Honecker persönlich gingen, unterstreicht die Funktion der Berichterstattung: Der Generalsekretär bekam die unmittelbaren Reaktionen auf sein eigenes Handeln von der ZAIG aufbereitet auf seinen Schreibtisch. Wenn die ZAIG dabei herausstellte, wie beeindruckt Bischof Hempel war, »welche detaillierte Sachkenntnis der Staatsratsvorsitzende über kirchliche Probleme gehabt habe«,54 dann liest sich das wie verstecktes Eigenlob der ZAIG für ihre kompetente Berichterstattung an die Staats- und Parteiführung.
Seit dem ersten Spitzentreffen von 1978 und besonders ab den frühen 1980er-Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass Berichte der ZAIG zu kirchlichen Themen auch den mächtigsten Mann in der DDR persönlich erreichten. Die Kirchenberichte waren für das MfS damit ein Instrument, sich innerhalb des Dreiecksverhältnisses von MfS, SED und den für die Kirchenpolitik in der DDR relevanten staatlichen Stellen zu positionieren. Für das MfS standen hinsichtlich der Kirchen vor allem sicherheitspolitische Aspekte im Vordergrund. Die Staatssicherheit betrachtete die Kirchen in erster Linie als Hort potenziell staatsfeindlicher, »antisozialistischer«, »feindlich-negativer« oder »revisionistischer« Bestrebungen. Ihre Aufgabe war es, diese Sicherheitsperspektive in die politischen Entscheidungsprozesse in Staat und Partei einzubringen sowie die Umsetzung der Kirchenpolitik zu überwachen und abzusichern. Sie war damit ein Akteur – aber nicht der entscheidende Akteur – auf dem Feld der Kirchenpolitik.55 Dementsprechend versuchte das MfS, die Berichterstattung als Einflussinstrument im eigenen Sinne zu nutzen, wie immer wieder auftauchende Handlungsempfehlungen illustrieren.
Solche Handlungsempfehlungen finden sich weniger in den Quasi-Standardberichtsreihen über die offiziellen Kirchengremien. Zwar tauchen auch hier Handlungsempfehlungen seitens des MfS auf, doch war das verhältnismäßig selten der Fall oder es waren eher allgemein gehaltene Forderungen, etwa die Gespräche staatlicher Stellen mit den leitenden Kirchenvertretern zu intensivieren. Eine Ausnahme bildete die Information 289/85 über die Synodaltagung der Kirchenprovinz Sachsen im Juni 1985 in Erfurt: Hier nutzten Friedens- und Umweltgruppen einen parallel zur Synode staatfindenden »Markt der Möglichkeiten«, um mit Infoständen über ihre Arbeit zu informieren. Diese sichtbare Aufwertung der Basisgruppen, die »zum Teil negative Positionen zu Problemen der Friedenssicherung, des Wehrdienstes und des Umweltschutzes propagieren« konnten, musste dem MfS missfallen.56 In der Folge formulierte die ZAIG sehr konkrete Handlungsempfehlungen, auf welche kirchlichen Akteure mit Gesprächen eingewirkt werden sollte, um eine Wiederholung zu verhindern.57 In den Berichten über Aktivitäten der sogenannten Basisgruppen im kirchlichen Umfeld finden sich im Unterschied zu den Berichten über die Kirchengremien regelmäßig und explizit derartige Vorschläge seitens des MfS für konkrete Maßnahmen staatlicher Stellen zur Eindämmung dieser »feindlichen« Bestrebungen. Hier, wo sich eine Opposition zu formieren drohte, ging es aus MfS-Sicht um sicherheitsrelevante Fragen und dementsprechend reklamierte die Stasi für sich die Kompetenz, den Berichtsempfängern in Staat und Partei explizite Ratschläge zu unterbreiten. Im Kern zielten die Vorschläge meist darauf ab, die jeweils zuständigen staatlichen Stellen dazu zu bewegen, in persönlichen Gesprächen auf die verantwortlichen kirchenleitenden Akteurinnen und Akteure, die grundsätzlich an einem stabilen Verhältnis als »Kirche im Sozialismus« interessiert waren, einzuwirken, damit diese kirchenintern disziplinierten, um die Arbeit der Basisgruppen einzudämmen. Außerdem schlugen die Berichterstatter gelegentlich vor, dafür zu sorgen, dass (potenzielle) Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Basisgruppenveranstaltungen in den Betrieben von ihren Vorgesetzten diszipliniert werden sollten.58 Selten empfahlen die ZAIG-Informationen auch, instruierte Kader aus Partei, Massenorganisationen und Hochschulen zu Basisgruppenveranstaltungen zu schicken, um deren Ablauf zu stören.59 Dass diese Empfehlungen keineswegs als unverbindliche Ratschläge dienten, zeigen die bisweilen überlieferten Reaktionen von Entscheidungsträgern auf die Berichterstattung. Im Dokumentenkopf zur Kurzfassung des Berichts über das landesweite Treffen der Frauenfriedensgruppen Ende März 1985 in Berlin vermerkte Generalsekretär Honecker beispielsweise handschriftlich sein berühmtes »Einverstanden E. Honecker«,60 an die beiden konkreten Handlungsvorschläge des MfS im Bericht setzte er außerdem jeweils ein Häkchen.61 Für die ZAIG waren derartige Reaktionen wichtig, zeigten sie doch die Wirksamkeit der eigenen Informationstätigkeit und bestätigten die Relevanz der Stasi-Kirchenberichte.
Wie es in der ZAIG-Berichterstattung grundsätzlich üblich war, tauchte die geheimpolizeiliche Überwachung und Bearbeitung der Kirche und der politisch alternativen Gruppen durch das MfS selbst nicht explizit auf, sie schwangen nur implizit mit, allein durch die Existenz der Berichte mit ihren Handlungsempfehlungen inklusive der häufigen Bemerkungen, die Informationen seien »wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt«. In den Kontext der geheimpolizeilichen Maßnahmen gegen potenziell als gefährlich eingestufte Entwicklungen gehörten jedoch Hinweise auf innerkirchliche Konflikte und Widersprüche, die staatlichen Stellen – im und außerhalb des MfS – als Angriffspunkte für mögliche Einflussnahmen dienen konnten. Dementsprechend widmeten sich die Kirchenberichte oftmals den Konflikten zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren. So arbeitete die Information über die 96. Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen (KKL) explizit heraus, welche Kirchenvertreter für die Teilnahme an staatlichen Gedenkveranstaltungen zum Zweiten Weltkrieg plädierten und wer dies strikt ablehnte.62 Der Bericht über die kircheninternen Reaktionen zum Treffen von Hempel und Honecker betonte die Kritik des Greifswalder Landesbischofs Gienke, dass Bischof Hempel bei seiner Zusammenkunft mit Honecker keine weiteren Bischöfe eingebunden hatte.63 Aber auch die Darstellungen, wie die KKL die gemeinsame Erklärung der beiden »Aktionen Sühnezeichen« aus Ost und West zum Jahrestag des Kriegsendes ablehnte64 oder den Umgang der bundesdeutschen EKD mit einem gemeinsam entworfenen Gebetstext beklagte,65 zielten in diese Richtung.
Dass sich das MfS im Gegenzug auch dafür interessierte, wie sichtbar die eigenen geheimpolizeilichen Maßnahmen für die kirchlichen Akteure waren, zeigt ein Abschnitt aus der Information über die konstituierende Tagung der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, in der das MfS Aussagen des Bischofs Gottfried Forck zur Allgegenwart der Stasi wiedergab: In seiner Predigt habe er »verleumderische Äußerungen getätigt, die in der Feststellung gipfelten, dass die Tätigkeit des MfS ›gegen das kirchliche Wirken‹ gerichtet sei«.66 Das führte laut MfS-Information zu einer Debatte über die Auswirkungen der Arbeit des MfS, in der »als politisch-negativ bekannte Synodale« dem Staat ein »übersteigertes Sicherheitsbedürfnis« unterstellten, von eigenen Erfahrungen mit der Stasi berichteten und einen Zusammenhang zwischen der Arbeit des Überwachungsapparates und der wachsenden Zahl an Ausreisewilligen aus der DDR herstellten.67 Hier schwangen gleich mehrere Ambivalenzen mit, die mit der Arbeit des MfS verbunden waren: Auf der einen Seite gehörte es zum Selbstverständnis und der Funktionslogik der Geheimpolizei, im Verborgenen zu arbeiten; die kirchen-öffentliche Debatte bei einer Synode musste den Offizieren missfallen. Auf der anderen Seite machte die Angst vor den geheimpolizeilichen Maßnahmen und die gefühlte Allgegenwart der Spitzel und Agenten der Stasi einen nicht unbeträchtlichen Teil der Wirkung des Sicherheitsapparates in der DDR-Gesellschaft aus, der »Stasi-Mythos« lebte vom Nimbus einer im Verborgenen lauernden Bedrohung für jegliches nicht-konforme oder gar oppositionelle Verhalten.68
2.2 Die kirchennahen Basisgruppen im Umbruch
Dass das MfS als Geheimpolizei die Aktivitäten der unabhängigen, aber kirchennahen Friedens-, Frauen-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen intensiv beobachtete und analysierte, erscheint aus der Systemlogik der SED-Diktatur selbstverständlich. Dass diese Gruppen jedoch in der geheimen Berichterstattung an die Staats- und Parteiführung einen derart großen Raum einnahmen, ist erklärungsbedürftig, besonders im Hinblick auf die gravierenden ökonomischen, ökologischen und gesellschaftspolitischen Krisen, in denen die DDR Mitte der 1980er-Jahre steckte und die sich in den Berichten nur selten niederschlagen.
Das MfS sah in den Basisgruppen – im Jahr 1985 vor allem in den »Frauen für den Frieden« und den Initiativen des kirchlichen Forschungsheimes Wittenberg – den Hort einer möglichen Opposition gegen die SED-Herrschaft. Besonders Initiativen, die die vielen lokalen und regionalen Gruppen aus verschiedenen Landesteilen miteinander zu vernetzen suchten, bewertete das MfS als gefährlich und damit berichtenswert. Deshalb fertigte die ZAIG detaillierte Informationen etwa über das zweite überregionale Treffen der »Frauen für den Frieden« im März,69 die dritte Ausgabe des landesweiten Friedensseminars »Frieden konkret« im März in Schwerin70 oder das »erneute Treffen von Vertretern sogenannter Umweltgruppen evangelischer Kirchen« im Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg im April.71 In der Berichterstattung des Jahres 1985 war ähnlich wie bei den Berichten zu den offiziellen Kirchenthemen eine gewisse Routine etabliert: Das MfS informierte grundsätzlich über größere Veranstaltungen, die bekanntesten Aktivistinnen und Aktivisten bedurften keiner Vorstellung oder Einordnung, sondern fungierten im Prinzip als Indikatoren, um den (aus MfS-Sicht) feindlichen Charakter eines Treffens herauszustellen. Die »hinlänglich bekannten« führenden Protagonistinnen und Protagonisten der Gruppenszene wie Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Rainer Eppelmann, Heiko Lietz oder Markus Meckel gehörten in der Folge zu den am häufigsten genannten Personen in der ZAIG-Berichterstattung des Jahrgangs 1985.72
Dass sich in der Basisgruppenszene Mitte der 1980er-Jahre Grundlegendes verschob, erkannte das MfS dennoch nur teilweise. Zwar registrierte man die thematischen Verschiebungen, seitdem die NATO Ende 1983 mit dem Aufstellen neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Westeuropa begonnen hatte und die westliche Friedensbewegung damit faktisch mit ihren Protesten gescheitert war: »Frieden sei nicht mehr Thema Nr. 1, aber nach wie vor wichtig. Friedensprobleme würden immer mehr mit Umweltproblemen verknüpft«73 und es gebe eine »Umorientierung der ›Friedensbewegung‹ auf die Menschenrechtsproblematik«.74 Doch dass die Basisgruppenszene in dieser Phase einen Reflexionsprozess durchmachte und versuchte, sich unabhängiger von den Kirchen zu organisieren, taucht in der geheimen Berichterstattung im Jahr 1985 nicht auf.
Weil die Kirchenleitungen seit dem Beginn der 1980er-Jahre zunehmend unter staatlichen Druck gerieten, die unabhängige Gruppenszene unter ihrem Dach zu disziplinieren und einzuschränken, kam es um 1984 herum zu wachsenden Konflikten zwischen Kirchenvertretern und der oppositionellen Szene, wobei die Basisgruppen versuchten, sich zunehmend jenseits der Kirchen zu organisieren.75 Bei den Abnabelungsbemühungen von der Kirche spielten gerade die 1985 so stark im Fokus stehenden »Frauen für den Frieden« mit Bärbel Bohley und Ulrike Poppe an der Spitze eine zentrale Rolle. Denn sie gehörten spätestens seit ihrer aufsehenerregenden Verhaftung im Jahr 1983 zu den prominentesten Basisgruppen-Protagonistinnen überhaupt und standen damit im Fokus der staatlichen und kirchlichen Eindämmungsversuche.76
In der Folge gehörten Poppe und Bohley gemeinsam u. a. mit Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Martin Böttger und Werner Fischer zu den Mitbegründerinnen und -begründern der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), die sich ab dem Herbst 1985 als erste bewusst kirchenunabhängige Oppositionsgruppe formierte. Doch die Initiativen, die die IFM-Gründung vorbereiteten wie der staatlicher- und kirchlicherseits unterbundene Versuch, im November 1985 in der Berliner Bekenntnisgemeinde ein Menschenrechtsseminar zu organisieren, tauchen in der ZAIG-Berichterstattung aus dem Jahr 1985 nicht auf.77 Allein ein Bericht über ein blockübergreifendes Friedenswochenende im Oktober in Ostberlin beschreibt vor allem Ralf Hirschs Engagement, das Thema der Menschenrechte stärker in den Fokus der Basisgruppen zu rücken.78 Zum Kontext der Basisgruppen gehören auch die ZAIG-Berichte über Unterstützungsleistungen der bundesdeutschen Grünen für die Gruppenszene in der DDR. Zwar sah die SED in den friedensbewegten Grünen potenzielle politische Partner, wenn es darum ging, westliche Aufrüstung zu verhindern, doch solidarisierten sich einige Grüne mit den unabhängigen Basisgruppen in der DDR und unterstützten diese aktiv. Deswegen beobachtete das MfS genau, mit wem sich Grünen-Politikerinnen und -Politiker bei ihren DDR-Aufenthalten trafen und verhinderte (zumindest zeitweise bzw. in bestimmten Konstellationen immer wieder) gar die Einreise von Grünen.79 Die ZAIG-Berichterstattung aus dem Jahr 1985 zeugt davon, welche Bedrohung die Stasi in der Basisgruppen-Solidarität der westdeutschen Ökopartei sah.80
2.3 Wirtschaft: Krise als Alltag
Vor dem Hintergrund der anhaltenden multiplen Krisensituation der DDR Mitte der 1980er-Jahre erscheint es bemerkenswert, wie wenig Informationen die ZAIG zu wirtschaftlichen Themen anfertigte – gerade im Vergleich zur geradezu ausufernden Kirchenberichterstattung. Nur insgesamt sieben Informationen aus dem Jahr 1985 befassten sich mit Wirtschaftsfragen.81 Weitere sechs Berichte, die ebenfalls die ökonomische Lage im Land behandelten, blieben im Rahmen der K- und O-Berichtsreihen MfS-intern. Im Vergleich zu den Jahrgängen 1981 (13), 1982 (11) und 1983 (16) der ZAIG-Berichterstattung, die bereits ediert vorliegen, bedeuten die nur sieben Informationen einen deutlichen Rückgang.
Auffällig ist darüber hinaus das beinahe vollständige Fehlen von Informationen über Havarien, Brände und ähnliche Vorkommnisse in den Industriebetrieben in der Berichterstattung des Jahres 1985. Zu Beginn des Jahrzehnts machten einzelne Informationen zu derartigen Ereignissen noch den Großteil der volkswirtschaftlichen Berichterstattung aus. Im Jahr 1988 versendete die ZAIG eine einzige Information »über die bisherige Entwicklung des Schadensgeschehens in der Volkswirtschaft der DDR im Jahre 1988«, die Ende November havariebedingte ökonomische Ausfälle aggregiert zusammentrug.82 Im Jahr 1985 ist es allein ein Bericht aus dem Januar über einen entgleisten Güterzug nahe Delitzsch, der zumindest grob als Havarie-Fall eingeordnet werden kann. Dabei thematisiert der Bericht nur »einige im Zusammenhang mit der Aufklärung der Ursachen« des Unfalls gewonnene Erkenntnisse.83 Der Unfall selbst hatte sich bereits im Juni 1984 ereignet und einen Schaden von mehr als 500 000 Mark verursacht. Die ZAIG-Information für den Minister für Verkehrswesen Otto Arndt informierte nun über die Hintergründe des Unfalls: Im Winter 1983/84 hatte ein schlecht ausgebildeter Gleisbautrupp neue Schienen fehlerhaft verlegt, was in der Juni-Hitze Gleisverwerfungen verursachte und wiederum den Güterzug zum Entgleisen brachte. Eigentlicher Anlass für die Information war aber weniger der Unfall selbst, sondern die mangelhafte Aufklärung der Unfallursache durch eine von der Reichsbahndirektion Halle und vom verantwortlichen Gleisbaubetrieb in Bitterfeld eingesetzte Kommission, die »zu keinen konkreten Feststellungen bezüglich der Ursache der Gleisverwerfung« gekommen war. »Erst durch die im Rahmen der vom MfS initiierten Untersuchungen […] konnten die tatsächlichen Ursachen der Entgleisung, die begünstigenden Umstände und Bedingungen zweifelsfrei geklärt werden«, stellte der Bericht unzweideutig fest. Es ging den Verfassern beim MfS also in erster Linie darum, den zuständigen Minister darüber zu informieren, dass Reichsbahn und Gleisbaubetriebe selbst nicht in der Lage oder Willens waren, adäquate Mängelursachenforschung zu betreiben.
Auch eine Information über »eingetretene Verluste« in Binnenfischereibetrieben behandelt keinen konkreten Havariefall, sondern präsentiert das Ergebnis einer tiefergehenden Untersuchung einer Reihe von Vorfällen über einen Zeitraum von zwei Jahren in einem Betriebsteil des VEB Binnenfischerei Wermsdorf.84 Da im Angesicht der Misere der DDR-Volkswirtschaft mit Ersatzteilmangel, massivem Verschleiß und extremem Investitionsstau85 andauernd Havariefälle, Schäden und Produktionsausfälle zu beklagen waren,86 erscheint es plausibel, dass es sich um eine bewusste Auslassung dieser Thematik in der geheimen Berichterstattung handelte. Zur Frage, ob das auf Grundlage eines Hinweises oder Desinteresses aus der Parteiführung, aus MfS-internen Überlegungen heraus oder aus einem anderen Grund geschah, sind weitergehende Forschungen notwendig.
Trotz fehlender Havarie-Fälle zeichneten die Wirtschaftsberichte kein rosiges Bild von der Lage im Land. Hinsichtlich der Energieversorgung im kommenden Winter 1985/86 warnte die Stasi, dass »Versorgungseinschränkungen oder zeitweilige Versorgungsunterbrechungen nicht auszuschließen« seien. Insbesondere »bei Kälteperioden bzw. bei extremen Witterungsbedingungen« waren die Sorgen groß, dass es zu »Störungen, Havarien und Brände[n] in veralteten und teilweise verschlissenen Produktionsanlagen« kommen könne.87 Auch bei der Planung der Energieversorgung für die Jahre bis 1990 waren laut MfS »erhebliche Verzögerungen eingetreten, die trotz eingeleiteter zentraler Maßnahmen nicht mehr aufgeholt werden können«.88 Außerdem befasste sich ein Bericht mit dem »Kampf gegen Unordnung, Verantwortungslosigkeit und Schlamperei« im Gütertransportwesen, wo in einigen Industriesektoren »der Anteil der ausgewiesenen Transportschäden und -verluste bis zu 1 % der industriellen Warenproduktion« ausmachte.89 Darüber hinaus behandelten Informationen für die Staats- und Parteiführung gemischte Reaktionen aus der Landwirtschaft im Bezirk Schwerin auf Reformen, die darauf abzielten die Pflanzen- und Tierproduktion wieder stärker miteinander zu verzahnen (und damit Fehler vorhergehender Landwirtschaftsreformen zu revidieren)90 und den Fall des Direktors eines Tabak-Außenhandelsbetriebes, der gegen das Valutamonopol91 verstoßen hatte, um mithilfe eigenmächtiger Buchführung die »Qualitätsminderungen bei der Herstellung von Inlandzigaretten« auszugleichen.92
Damit war die Berichterstattung des MfS zu Wirtschaftsthemen eine Sammlung von ökonomischen Einzelproblemen ohne den Anspruch, ein Gesamtbild der Lage zu zeichnen. Für ökonomische Makro-Analysen sah sich die Partei verantwortlich, das ihr untergeordnete MfS lieferte nur einzelne Informationen.93 Doch die ZAIG beschäftigte sich – zumindest indirekt – auch mit den Auswirkungen der katastrophalen ökonomischen Lage, indem es in Stimmungsberichten die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der angespannten Versorgungslage thematisierte. Diese Stimmungsberichte der O-Reihe verließen das MfS jedoch nicht, sondern dienten als Stasi-interne Meldungen. Für das MfS als Sicherheitsorgan spielten diese Berichte eine wichtige Rolle, weil die Stabilität der »Fürsorgediktatur« davon abhing, dass Honecker sein Versprechen von der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« erfüllte.94 Die Stimmungsberichte aus der Bevölkerung aus dem Jahr 1985 dokumentieren, wie fragil der seit den 1970er-Jahren mit Honeckers Wirtschaftspolitik etablierte »Tauschhandel ›Politische Ruhe gegen relativen Wohlstand und soziale Sicherheit‹«95 zwischen SED und DDR-Bevölkerung inzwischen geworden war. Zwar enthalten auch die MfS-internen Stimmungsberichte am Anfang jeweils einleitend positive Formulierungen, wonach die »Mehrheit der sich zu diesen Problemen äußernden Personen die erreichten Ergebnisse in allen Bereichen der Volkswirtschaft und das überwiegend stabile Angebot an Grundnahrungsmitteln anerkannt und gewürdigt«96 oder gar die »Mehrzahl der Meinungsäußerungen […] das überwiegend stabile Angebot an Grundnahrungsmitteln positiv bewertet«97 habe, doch folgen dann Aufzählungen von beklagten Missständen bei der Warenversorgung und Preispolitik, die ein desolates Bild zeichnen. Am gravierendsten erscheint dabei, dass das MfS eine »Tendenz wachsenden Unverständnisses hinsichtlich ständig wiederkehrender Probleme und Schwierigkeiten bei der bedarfs- und sortimentsgerechten Versorgung der Bevölkerung«98 konstatierte, eine systematische Verschlechterung also erkennbar war und von der Bevölkerung auch als solche registriert wurde. Außerdem »wird betont, viele Mängel seien den verantwortlichen Organen seit Jahren bekannt, doch habe sich kaum etwas verändert«99 – die Bevölkerung machte also Missmanagement seitens der Funktionäre für die Lage verantwortlich. Die vom MfS dokumentierte Kritik richtete sich gegen die langen Wartezeiten beim Kauf von Pkw bzw. Pkw-Ersatzteilen, das mangelnde Angebot an Kinderbekleidung und vor allem die Preise für Waren des täglichen Bedarfs: Beklagt wurde die Ausweitung der Delikat- und Exquisit-Verkaufsstellen, wo zunehmend Produkte zu hohen Preisen angeboten wurden, die es zuvor zu niedrigeren Preisen in den normalen Geschäften zu kaufen gab.100 Außerdem bemerkte die ZAIG: »Aus mehreren Bezirken der DDR, darunter auch aus industriellen Zentren, liegen Hinweise über eine erneut ansteigende Tendenz vor, Einkäufe während der Arbeitszeit zu tätigen. Besonders ausgeprägt war dies in der Vorweihnachtszeit. (In diesem Zeitraum kam es zu erheblichen Diskussionen über angeblich gravierende Mängel in der Versorgung mit solchen festtagstypischen Erzeugnissen und Waren wie Südfrüchte, Schokoladenerzeugnisse, Backzutaten, Baumschmuck. Hauptsächlich Einwohner von Landgemeinden äußerten ihre Unzufriedenheit über die Zuteilung von Südfrüchten. Sie verwiesen in diesem Zusammenhang insbesondere auf die ›Bevorteilung‹ der Einwohner in der Hauptstadt der DDR, Berlin.)«101 Wenn ein Bericht dann auch noch vermerkte, dass selbst »Mitglieder der Partei« sich über die Entstehung von immer mehr Intershop-Läden beklagten, in denen nur mit westlichen Devisen eingekauft werden konnte, was ein »›Land mit zwei Währungen‹ und ›privilegierte‹ Schichten«102 erzeugen würde, dann war das für das MfS ein alarmierendes Signal – das aber nicht an die Partei- und Staatsführung kommuniziert wurde (jedenfalls nicht über die ZAIG), sondern im Ministerium verblieb.
2.4 Das Grenzregime: Berichte als Reaktion auf (westliche) Medienöffentlichkeit
Neben dem ökonomischen Niedergang gab es kaum ein Thema, das die DDR in den 1980er-Jahren im gleichen Maße delegitimierte und destabilisierte wie das restriktive Grenzregime bzw. die innerdeutsche Grenze und die Berliner Mauer. Seit der von der DDR ratifizierten KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 war eine stetig wachsende Ausreisebewegung entstanden, immer mehr Unzufriedene wollten ihr Menschenrecht auf Freizügigkeit wahrnehmen und in den Westen übersiedeln.103 Obwohl sich die DDR mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte zum Recht auf Freizügigkeit bekannt hatte, gab es bis 1988 keine rechtliche Grundlage für eine legale Ausreise aus der DDR – Ausreiseanträge galten als illegal. Bei den individuellen Motivlagen für den Ausreisewunsch vermischten sich oftmals politische Einstellungen mit der Hoffnung auf ökonomischen Aufstieg im Westen sowie Repressionserfahrungen durch DDR-Behörden.104 Ein Leben in der Bundesrepublik war für sehr viele Menschen viel attraktiver als das Leben in der DDR. Sie nahmen soziale und ökonomische Ausgrenzung, Schikanen und strafrechtliche Verfolgung in Kauf, um ausreisen zu können. Nicht zu vergessen sind auch die erfolgreichen und gescheiterten Fluchtversuche samt der Todesopfer.105
In der Geschichte der Ausreisebewegung aus der DDR stellte das Jahr 1984 ein besonderes dar: Die SED versuchte, sich mit der plötzlichen Gewährung einer großen Zahl von Ausreisegesuchen eines Teils des kritischen Potenzials im Land zu entledigen. Sie ging davon aus, mit einer »als Befreiungsschlag gedachten Aktion« Druck von der Ausreiseproblematik zu nehmen und genehmigte binnen drei Monaten mehr als 21 000 Ausreiseanträge.106 Doch führte die genehmigte Ausreisewelle nicht zu einem Abebben der Ausreiseanträge, sondern im Gegenteil zu noch viel mehr neuen Antragstellungen, weil viele bis dahin zögernde Ausreisewillige sich nun motiviert fühlten, den Schritt ebenfalls zu wagen. Außerdem entwickelten sich die sogenannten Botschaftsbesetzungen im Jahr 1984 zu einem größeren Phänomen: Immer mehr Ausreisewillige aus der DDR begaben sich in Ostberlin und anderen Hauptstädten des sogenannten Ostblocks in die Botschaften westlicher Staaten und forderten die Ausreise in den Westen. Besonders die bundesdeutsche Botschaft in Prag wurde zum Anlaufziel, im Herbst/Winter 1984/85 musste sie zeitweise wegen Überfüllung geschlossen werden, bevor die DDR die Ausreise von insgesamt 350 DDR-Bürgerinnen und -Bürgern genehmigte.107
Im Jahr 1985 versuchte die DDR-Führung diese Dynamik wieder einzudämmen und forcierte eine Propaganda-Kampagne über angeblich Tausende desillusionierte Ausgereiste, die aufgrund der Umstände in der Bundesrepublik zurück in die DDR wollten.108 Zwar kam es tatsächlich zu Enttäuschungen bei Menschen, die sich das Ankommen in der bundesdeutschen Gesellschaft leichter vorgestellt hatten, doch waren die genannten Zahlen von über 20 000 Rückkehrwilligen völlig übertrieben.109 Das MfS begleitete die Kampagne und deren Wirkung eng. In einem Schreiben an alle Diensteinheiten-Leiter erläuterte Minister Mielke persönlich die Hintergründe und Zielstellung der Kampagne und stellte klar, »dass keine Absicht besteht, in größerem Umfang die Rückkehr in die DDR zu gestatten. Die Veröffentlichung solle vielmehr deutlich machen, dass die aus der DDR-Staatsbürgerschaft Entlassenen keinesfalls das angetroffen haben, was sie erhofften.«110 MfS-intern fertigte die ZAIG drei O-Berichet an, die sich mit den Reaktionen aus der Bevölkerung auf die Kampagne befassten.111 Demnach habe die Berichterstattung »umfangreiche Diskussionen ausgelöst«. Die vom MfS dokumentierten Reaktionen behandelten vor allem die Frage, ob man den Ausgereisten die Rückkehr gestatten sollte. Die meisten gesammelten Aussagen lehnten dies ab, doch forderten einige laut MfS eine gründliche Einzelfallprüfung – vor allem für junge Menschen und Familien mit Kindern. Der Tod des sowjetischen KPdSU-Generalsekretärs Tschernenko am 10. März und die Ernennung seines Nachfolgers Gorbatschow am Tag darauf beendeten die mediale Kampagne unversehens, der mediale Fokus lag nun voll auf den Ereignissen in Moskau.
Fluchtfälle thematisierte die ZAIG-Berichterstattung im Jahr 1985 nur drei: Zum einen den gescheiterten Versuch einer 18-jährigen Frau, sich im Reisebus einer westdeutschen Schulklasse über die Grenze schmuggeln zu lassen;112 dann die erfolgreiche Flucht eines Potsdamer Wasserschutzpolizisten über die Havel mit seinem Dienstboot,113 die einige mediale Aufmerksamkeit in Westberlin erzeugte,114 und schließlich den ebenfalls gescheiterten Versuch einer Ärzte-Familie, sich gegen Bezahlung von einem Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin nach Westberlin bringen zu lassen.115 Da sowohl die Flucht des Wasserschutzpolizisten als auch (zumindest indirekt) der gescheiterte Fluchtversuch der jungen Frau im Reisebus mit westlicher Presseberichterstattung im Zusammenhang standen – die ZAIG verwies im Bericht auf eine erfolgreiche Flucht auf gleichem Wege, die wenige Monate zuvor in der Bundesrepublik breite mediale Berichterstattung erfahren hatte – ist davon auszugehen, dass die westliche Medienöffentlichkeit für die ZAIG ausschlaggebend war, um von diesen beiden Fluchtfällen an die Staats- und Parteiführung zu berichten.116
Das Reagieren auf westliche Medienberichte über Fluchten, Grenzvorfälle und Ausreisegesuche war ein typisches Muster für das Schreiben von Berichten zu diesen Themen. So existiert aus dem Jahr 1985 z. B. eine Information über den eigentlich wenig aufsehenerregenden natürlichen Todesfall einer Westberliner Rentnerin an der Grenzübergangsstelle Friedrichstraße,117 zu dem es in der Westberliner »Morgenpost« hieß, die »Frau starb hilflos«.118 Eine ähnliche Information behandelte den Todesfall eines schwerkranken Kindes aus Hamburg, das kurz nach einem Aufenthalt mit seiner Mutter in der DDR starb. Die Bild-Zeitung griff den Fall auf und berichtete in bekannter Manier über eine »schikanöse Abfertigung« durch die DDR-Grenzer, die mitverantwortlich für den Tod des Kindes gewesen sei.119 In solchen Fällen erstellte das MfS Berichte mit Richtigstellungen und Hintergrundinformationen zu den (aus MfS-Sicht fehlerhaften oder verzerrenden) westlichen Presseberichten, die von der Staats- und Parteiführung registriert worden waren. In diese Kategorie fällt auch die Berichterstattung zum Engagement zweier ausgereister Familien, ihre in der DDR zurückgebliebenen minderjährigen Kinder zu sich holen zu dürfen.120 Besonders die Protestaktionen von Jutta Gallus am Checkpoint Charlie in Westberlin erzeugten große öffentliche Anteilnahme am Schicksal ihrer Kinder, später machten ein Buch und ein Spielfilm die »Frau vom Checkpoint Charlie« sehr bekannt.121 Auch im Fall Udo Zeitz, der eine Umweltschutzorganisation in der DDR gründen wollte, den DDR-Behörden vorwarf, mit Pflanzenschutzmitteln eine Erkrankung seiner Tochter ausgelöst zu haben, und der eine Ausreise in den Westen anstrebte, gaben westliche Presse- und Fernsehberichte (sowie das Solidaritätsschreiben einer Grünen-Bundestagsabgeordneten) den Anlass für die Berichterstattung.122
Das Jahr 1985 war das Jahr mit den wenigsten Fluchtfällen der gesamten 1980er-Jahre.123 Ein Zusammenhang mit der Ausreisewelle seit 1984 erscheint dafür als plausible Erklärung: Die Aussicht auf eine mögliche Übersiedlung per Antrag veranlasste weniger Menschen dazu, das Risiko eines Fluchtversuches einzugehen. Womöglich liegt hierin der Grund dafür, dass das Thema Flucht in der ZAIG-Berichterstattung des Jahres 1985 vergleichsweise wenig Raum einnimmt. Warum aber auch die anschwellende Ausreisebewegung und die Botschaftsbesetzungen (auch als mögliche Erklärungen für die sinkenden Fluchtzahlen) beinahe gar keine Rolle spielen, bleibt dagegen offen.
2.5 Die Sowjetarmee in der DDR: die »Freunde« als Belastung
Die genaue Anzahl der in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten war bis zum Ende der DDR unbekannt. Als Anfang der 1990er-Jahre im wiedervereinigten Deutschland der Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen organisiert wurde, wiesen offizielle Stellen ungefähr 546 000 Angehörige der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) auf dem Gebiet der nicht mehr existierenden DDR aus, darunter rund 339 000 Soldaten und 207 000 Zivilangestellte und Familienangehörige.124 Mit ihren Kasernen und Truppenübungsplätzen war die Sowjetarmee in der gesamten DDR dauerhaft präsent.125 Doch trotz »Waffenbrüderschaft« und »deutsch-sowjetischer Freundschaft« waren persönliche Begegnungen und Austausch zwischen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern und den sowjetischen Soldaten selten. Die Bevölkerung betrachtete die fremden Soldaten oft mit einer Mischung aus Furcht, Herablassung und Mitleid. Die GSSD bildete in der DDR eine meist abgeschlossene Parallelgesellschaft.126 Dennoch kam es immer wieder zu Konflikten mit Besatzungssoldaten, zu Verkehrsunfällen mit sowjetischer Militärbeteiligung oder zu Straftaten durch Angehörige der GSSD. In den 1980er-Jahren wuchs die Zahl derartiger Vorkommnisse spürbar an, sodass die ZAIG begann, nicht nur über besondere Einzelfälle in Form von Informationen und sporadisch im Rahmen der MfS-internen K-Ablage zu berichten, sondern auch Übersichten und statistische Erhebungen über das wachsende Ausmaß solcher Fälle und die Resonanz dieser Entwicklung in der Bevölkerung anzufertigen.
Im Jahr 1985 verfasste die ZAIG zwei Informationen und drei K-Berichte, die sich mit Vorfällen im Zusammenhang mit der GSSD befassten. Die beiden Informationen gingen jeweils an den KGB in Berlin-Karlshorst, die K-Berichte verblieben wie üblich für diese Berichtsreihe im MfS. Hohe Parteifunktionäre oder staatliche Stellen erhielten folglich keine Berichte zu diesen Themen. Wobei nicht auszuschließen ist, dass etwa Erich Mielke in seinen persönlichen Unterredungen mit Generalsekretär Honecker die Inhalte zum Thema machte.
Eine Einzelinformation aus dem Januar 1985 berichtet von einem Jagdunfall, bei dem ein DDR-Bürger bei einem illegalen Jagdausflug gemeinsam mit sowjetischen Soldaten schwer verletzt wurde.127 Im Zuge der Ermittlungen zum Unfall fand das MfS heraus, dass der DDR-Bürger bereits seit Jahren gemeinsam mit sowjetischen Militärangehörigen Wilderei im Raum Eberswalde betrieben hatte und offenbar auch als Informant für sowjetische Sicherheitskräfte tätig war. In der zweiten Einzelinformation, die sich mit Straftaten durch GSSD-Angehörige befasste, ging es um den Versuch von sowjetischen Soldaten, fabrikneue Panzerketten-Teile, die vom VEB Gießerei- und Maschinenbau Leipzig hergestellt und an die sowjetischen Truppen ausgeliefert worden waren, als Schrott zu verkaufen.128
Von den drei Stasi-internen K-Berichten behandelten zwei aggregiert die Zahlen von Unfällen und Straftaten mit GSSD-Beteiligung im gesamten Jahr 1984129 und in den ersten vier Monaten des Jahres 1985.130 Der dritte K-Bericht befasste sich mit einem Todesfall in Haldensleben: Hier hatte eine sowjetische Militärstreife vor einer öffentlichen Tanzveranstaltung einen sowjetischen Soldaten, der sich mit seinen Begleitern gegen eine Kontrolle durch die Streife wehrte, erschossen.131
Einen Eindruck, welches Ausmaß die Zahl von Straftaten und Unfällen von sowjetischen Soldaten Mitte der 1980er-Jahre angenommen hatte und als wie gravierend das MfS dieses Problem bewertete, liefern die beiden Übersichtsberichte über das Jahr 1984 und die ersten vier Monate des Jahres 1985. Im Jahr 1984 sei die Anzahl »derartiger Vorkommnisse« gegenüber dem Jahr 1983 um 16,55 Prozent angestiegen.132 In diesem Jahr zählte das MfS 217 »Angriffe gegen Leben und Gesundheit sowie Freiheit und Würde des Menschen«, darunter 58 Fälle von Vergewaltigungen, »Nötigung und Missbrauch zu sexuellen Handlungen«.133 Hinzu kamen mehr als 1 600 Diebstahldelikte, die ungefähr die Hälfte der Straftaten durch GSSD-Angehörige ausmachten, und mehr als 1 500 »schuldhaft verursachte Verkehrsunfälle«.134 Um nicht nur einen quantitativen Eindruck zu vermitteln, präzisierte der Bericht: »Die Straftaten der vorsätzlichen Körperverletzung, Vergewaltigung sowie des Missbrauchs zu sexuellen Handlungen erfolgten überwiegend gemeinschaftlich handelnd durch mehrere Täter und waren erneut durch ein brutales Vorgehen gekennzeichnet. Durch körperliche Misshandlungen erlitten die betroffenen DDR-Bürger zum Teil erhebliche gesundheitliche Schäden; vier Bürger der DDR sind an den Folgen der Verletzungen verstorben.«135 Bei den von sowjetischen Militärangehörigen verursachten Verkehrsunfällen seien 546 DDR-Bürgerinnen und -Bürger verletzt und 47 getötet worden.136 Des Weiteren thematisierte der Bericht den oft fahrlässigen Umgang »mit Waffen, Munition und Sprengmitteln« durch die GSSD-Angehörigen.137 Nach der ausführlichen Zeichnung des Lagebildes versuchte sich der Bericht auch an einer Einordnung. Demnach führten die Straftaten »verbunden mit einer hohen Öffentlichkeitswirksamkeit […] mehrfach zu teils erheblicher Beunruhigung unter der Bevölkerung sowie zu Eingaben an staatliche Organe mit der Forderung zur Einflussnahme auf die Überwindung derartiger Erscheinungen, auf Schadenersatz und Wiedergutmachung.«138 Dem Bericht zufolge bestand »die dringende Notwendigkeit, das vertrauensvolle Zusammenwirken zwischen den zuständigen Organen der DDR und den Kommandeuren und Militärstaatsanwälten sowie den Verantwortlichen der Autoinspektionen139 der GSSD noch enger und effektiver zu gestalten«.140 Außerdem erinnerte der Text an die »Pflicht, den zuständigen Organen der GSSD alle aus diesen Sofortmaßnahmen gewonnenen Erkenntnisse und Hinweise schnellstens zur Verfügung zu stellen, damit diese ihrerseits alle notwendigen weiteren Maßnahmen zur Identifizierung und Ergreifung der Täter sowie zur Beweissicherung durchführen können«.141 Die eigentliche Intention des Berichtes scheint jedoch die Kritik daran gewesen zu sein, dass eine adäquate Strafverfolgung in derartigen Fällen meist nicht an fehlenden Meldungen seitens der DDR-Behörden, sondern in der Regel am mangelnden Aufklärungswillen der sowjetischen Seite scheiterte.142 Zum Ende beklagt der Bericht nämlich, dass sowjetische Offiziere Straftäter in ihren Reihen einfach versetzten, »nicht auffinden« konnten, Diebesgut einbehielten oder versuchten, mit Zahlungen Anzeigen zu verhindern. Die Verfasser mahnten dagegen an: »Eine höhere Wirksamkeit in der vorbeugenden Verhinderung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen zu erreichen, sollte – im gemeinsamen Interesse – Anlass sein, über die Kommandeure, Leiter der Politorgane, Militärstaatsanwälte und Autoinspektionen sowie unter Einbeziehung der Partei- und Komsomolorganisationen der GSSD noch konsequenter auf die Durchsetzung entsprechender Befehle zur Wahrung von Sicherheit, Disziplin und Ordnung sowie stärkere erzieherische Einflussnahme auf die Achtung der Rechtsordnung der DDR der Angehörigen der GSSD hinzuwirken.«143
Umso erstaunlicher erscheint es, dass die Berichte der K-Ablage über Straftaten und Unfälle mit den Angehörigen der GSSD im Jahr 1985 aufhörten. Der Bericht über die Fälle in den ersten vier Monaten des Jahres 1985 aus dem Mai 1985 war der letzte derartige Bericht in dieser Berichtsreihe. 1981 hatte die ZAIG erstmals einen K-Bericht, der Straftaten und Verkehrsunfälle sowjetischer Militärangehöriger zum Thema hatte, angefertigt.144 Seitdem verfasste die ZAIG jährlich ein bis vier solcher Berichte für die MfS-interne K-Ablage. Im Mai 1985 endete diese Praxis. Insgesamt wurden bis zum Ende der ZAIG 1989/90 nur noch fünf weitere Berichte für die Ablage K 2 (Bewaffnete Organe) angefertigt, keiner davon behandelte die GSSD.145 Ein vorläufiger Blick in die noch nicht edierten ZAIG-Berichte aus dem Jahr 1986 lässt die Vermutung zu, dass die ZAIG dieses Problem in der Zwischenzeit als so gravierend bewertete, dass sie nun dazu überging, auch Informationen mit Übersichten zu Straftaten durch GSSD-Angehörige zu erstellen und diese auch an den KGB zu verschicken.146 Zwar gingen die Zahlen der Straftaten von GSSD-Angehörigen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zurück, doch blieben sie auf einem Niveau, das weiterhin als problematisch gewertet werden musste.147 Ursächlich für das in den 1980er-Jahren hohe Niveau an Straftaten durch sowjetische Militärangehörige in der DDR war vermutlich der sowjetische Krieg in Afghanistan. Die sowjetische Führung hatte dafür große Teile ihrer Elitetruppen, die bisher in der DDR stationiert waren, abgezogen und durch schlechter ausgebildete Kräfte, die aus den ärmsten Regionen der Sowjetunion stammten, ersetzt.148
3. Die ZAIG im Jahr 1985
Seit den frühen 1980er-Jahren war die organisatorische Entwicklung der ZAIG weitestgehend abgeschlossen, nennenswerte strukturelle Veränderungen fanden nicht mehr statt.149
Den Anlass für die Lage- und Stimmungsberichterstattung des MfS gab der Juni-Aufstand 1953. Um derartige Bedrohungen in Zukunft frühzeitig erkennen zu können, richtete der damalige Stasi-Chef Ernst Wollweber eine achtköpfige Informationsgruppe ein. Dieses kleine Nachrichtenbüro wuchs und professionalisierte sich in den Folgejahren kontinuierlich. 1960 richteten die Bezirksverwaltungen und operativen Hauptabteilungen des MfS eigene Informationsgruppen als Unterbau der jetzt »Zentrale Informationsgruppe« genannten Diensteinheit ein. Ab 1965 arbeiteten sie in einem einheitlichen System für die Recherche, Auswahl und Auswertung von Informationen. Damit verfügte die »Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe« nun über Niederlassungen in allen operativen und regionalen Diensteinheiten. In den folgenden Jahren übernahm die ZAIG immer mehr Funktionen: 1968 das innerministerielle Kontrollwesen, 1969 die Verantwortung für die elektronische Datenverarbeitung und 1985 – als letzte größere strukturelle Veränderung – die Öffentlichkeitsarbeit und Traditionspflege des MfS. Damit verwaltete die ZAIG das Archiv, die Registratur, das Rechenzentrum und die Rechtsstelle des MfS. Sie war nicht nur für die Auswertung und Aufbereitung des gesammelten geheimpolizeilichen Wissens und die Information von Staats- und Parteiführung zuständig, sondern stand mit ihren Auswertungs- und Kontrollgruppen (AKG) in allen Hauptabteilungen, selbstständigen Abteilungen und Bezirksverwaltungen in der Pflicht, eine einheitliche und effektive Anleitung, Kontrolle und Weiterentwicklung sämtlicher administrativer und operativer Verfahren bis hinunter auf Kreisebene sicherzustellen.150
Aus einer Redaktionskommission für MfS-Berichte war innerhalb von circa zwanzig Jahren die Schaltzentrale der Stasi geworden. Dafür wuchs die ZAIG personell immens. 1972 hatte sie gerade einmal 57 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, im Jahr 1985 waren es 326 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Inklusive der AKG-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf BV-Ebene arbeiteten Mitte der 1980er-Jahre mehr als 1 100 Menschen für das Stasi-interne Auswertungs- und Kontrollsystem.151 Für den Bedeutungszuwachs und das personelle Wachstum der ZAIG war Generalleutnant Werner Irmler verantwortlich, der faktisch ab 1957 für das System der Informationssammlung und -auswertung zuständig war und 1965 die ZAIG-Leitung auch formal übernahm. Er zählte zu den engsten Vertrauten Erich Mielkes, in dessen direktem Anleitungsbereich die Diensteinheit angesiedelt war.
Für die Auswertungs- und Informationstätigkeit war der Bereich 1 der ZAIG verantwortlich. Sechs thematische Arbeitsgruppen sortierten, filterten und fassten hier die von den zentralen und unteren Diensteinheiten eingehenden Informationen zusammen.152 Ihre Ergebnisse speisten sie im nächsten Schritt in das Berichtswesen ein, für das Rudi Taube, der Stellvertreter Irmlers, zuständig war. Er sollte sicherstellen, dass die Spitzen von MfS, SED und Staatsapparat über Meinungen in der Bevölkerung zu bestimmten Ereignissen und über einzelne sicherheitsrelevante Vorkommnisse frühzeitig und umfassend unterrichtet wurden. Die von Taubes Stellvertreter Günter Hackenberg angeleiteten Arbeitsgruppen (AG) 1 (Internationale Fragen, Systemauseinandersetzung), 2 (Extremismus, Terror, Spionage, Verkehr, Volkswirtschaft) und 6 (Politische Untergrundtätigkeit, Kirche, Kultur, Jugend) formulierten dann die Berichte in der Regel aus. Die AG 6 existierte erst ab 1981, um dem Wirken der unabhängigen Basisgruppen im Umfeld der evangelischen Kirche Rechnung zu tragen. AG 4 (Auswertung westlicher Medien) und AG 5 (Dokumentation) übernahmen vor allem unterstützende Funktionen.153 Alle Arbeitsgruppen zusammen verfügten 1986 über 44 Planstellen.154
Für den Inhalt der ZAIG-Berichte gab es keine formalen Vorgaben. Allein Minister Mielke bestimmte über die Themen. Der Bereich 1 konnte praktisch über alle möglichen politischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Fragen berichten, da ihm von ganz unterschiedlicher Seite Informationen zugespielt wurden, vor allem von den Auswertungs- und Kontrollgruppen der operativen Hauptabteilungen, aber auch vom strafrechtlichen Untersuchungsorgan (HA IX) und den regionalen MfS-Dienststellen. Außerdem erhielt die ZAIG Meldungen vom Zentralen Operativstab und die Erkenntnisse aus den westlichen Massenmedien. Der Großteil der Informationen stammte dabei aus der »operativen Arbeit« der Offiziere, also aus dem Einsatz konspirativer Zuträger, der Kontrolle des Postverkehrs oder dem Einsatz von Abhör- und Überwachungstechnik. Relevant für die Informationsgewinnung war aber auch der persönliche Austausch zwischen MfS-Offizieren und leitenden Mitarbeitern der Industriebetriebe, staatlichen Organe oder gesellschaftlichen Einrichtungen.155
4. Die Berichtsserien der ZAIG im Jahr 1985
Der Bereich 1 fertigte im Jahr 1985 194 Inlandsberichte an. Sie unterteilen sich in drei Berichtserien, deren Bezeichnung auf die jeweilige Ablage innerhalb des Sekretariats der ZAIG zurückgeht. Die wichtigste Berichtsserie, die »Informationen«, behandelt einzelne sicherheitsrelevante Ereignisse mit einer großen thematischen Bandbreite von den Tagungen der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen über die Durchführung von Friedensseminaren bis hin zur versehentlichen Luftraumverletzung durch ein westdeutsches Kleinflugzeug. Stasi-intern wurden sie als »Parteiinformationen« bezeichnet, da sie in der Regel immer auch an ausgewählte Vertreter der Partei- und Staatsführung weitergeleitet wurden. Sie folgten einem einheitlichen Layout auf einem Formblatt mit dem Aufdruck »Information über …«, dem Datum und dem Namen der herausgebenden Institution (ZAIG). Normalerweise behandelten die »Informationen« einzelne, abgeschlossene Sachverhalte.
Die »Informationen« waren für SED- und Staatsführung gedacht. Darum musste die ZAIG die Themen in einer Art aufbereiten, in der die Texte auch ohne detaillierte Fachkenntnisse auf dem jeweiligen Themengebiet verständlich waren. Außerdem gaben sie bei politisch heiklen Themen immer an, wie öffentlich der jeweilige Sachverhalt war, etwa ob (westliche) Medienvertreterinnen und -vertreter anwesend waren, wie viele Menschen beteiligt waren oder wie zugänglich der Ort des Geschehens war. Und schließlich vermieden es die Verfasser, Analysen und Bewertungen der Effektivität anderer staatlicher und wirtschaftsleitender Organe jenseits des MfS einzufügen, um nicht in die Kompetenz der SED einzugreifen. Praktisch bedeutete das für die ZAIG oftmals eine Gratwanderung, aktuell und gewissenhaft zu informieren, dabei jedoch auf grundsätzliche Einschätzungen zu verzichten.
Neben den »Informationen« erarbeitete die ZAIG noch Berichtsreihen für den innerdienstlichen Gebrauch, die die Geheimpolizei in der Regel nicht verließen. Diese landeten im ZAIG-Sekretariat in der Ablage »K«, die für die Rubrik »Verschiedenes« stand und sich in die Untergruppen K 1 (Diverse Probleme), K 2 (Bewaffnete Organe) und K 3 (Kultur, Medien, Opposition) unterteilte. Im Jahr 1985 fertigte die ZAIG 17 derartige K-Berichte. Die K-Reihe diente der Unterstützung der MfS-Dienststellenleiter bei ihrer geheimpolizeilichen Arbeit und unterscheidet sich thematisch kaum von den »Informationen«. Meist erschienen sie als »unfirmierte Dokumente«, das heißt der Dokumentenkopf bestand nur aus dem Titel »Hinweise zu …« ohne Angaben von Datum und herausgebender Institution, manchmal allerdings mit dem Vermerk »Streng geheim!«.
Darüber hinaus verfasste die ZAIG noch die sogenannten O-Berichte, die die Stimmungslage in der Bevölkerung behandelten. Aus dem Jahr 1985 existieren 22 dieser Stimmungsberichte, die jeweils mit dem Titel »Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung im Zusammenhang mit …« eingeleitet wurden. Die O-Berichte trugen meist Meinungen und Stimmungen zu konkreten Anlässen zusammen, etwa zum Machtantritt Gorbatschows in der Sowjetunion oder zum in die DDR übergelaufenen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz Werner Tiedge. Im Jahr 1985 verfasste die ZAIG jedoch auch zwei O-Berichte, die scheinbar ohne konkreten Anlass daherkamen und nur »beachtenswerte Reaktionen der Bevölkerung«156 bzw. »einige aktuelle Gesichtspunkte der Reaktion der Bevölkerung«157 aufführen. Darunter verbargen sich dann Bevölkerungsreaktionen zu mehreren unterschiedlichen aktuellen Themen wie Versorgungsfragen oder Gorbatschows Politik. Zwar fehlte auch den O-Berichten ein einheitlicher Aufbau, doch lassen sich einige wiederkehrende Merkmale identifizieren, die von Mielke ausdrücklich eingefordert wurden: Die Verfasser hatten frühzeitig auf Unzufriedenheiten aufmerksam zu machen, dabei Äußerungen verschiedener Personenkreise wie Arbeiterinnen und Arbeiter, Jugendliche, Landwirtinnen und Landwirte oder SED-Mitglieder zu berücksichtigen, ferner den konkreten Anlass und die Art und Weise der Äußerungen (z. B. Diskussion, Pausengespräch oder Eingabe) kenntlich zu machen und schließlich auf eine Kritik an der SED-Politik zu verzichten.158 Das erzeugte für die Berichtsverfasser in der ZAIG einen Widerspruch, mit dem sie sich auseinandersetzen mussten: Auf der einen Seite hatten sie relevante Stimmungsentwicklungen zu erkennen und gegebenenfalls davor zu warnen. Auf der anderen Seite versuchten sie jedoch immer wieder konforme Aussagen »progressiver«, also SED-loyaler Personenkreise einzuflechten und verzichteten auf zu kritische Formulierungen. So versuchten sie den Eindruck zu vermeiden, das MfS kritisiere SED-Entscheidungen.
Diese inneren Widersprüche des Berichtswesens verzerrten die Aussagen der O-Berichte (und teilweise auch der K-Berichte und der »Informationen«) mitunter erheblich. Neben diesen unterschiedlich ausgeprägten ideologischen Verzerrungen muss im Hinblick auf quellenkritische Belange auch beachtet werden, dass die Berichte sich auf die detaillierte Darstellung einzelner Ereignisse beschränken, Kontextualisierungen oder größere Einordnungen aber vermieden werden.
5. Adressaten der Berichte
Die Berichte waren jeweils für einen bestimmten Empfängerkreis gedacht. Immer gingen sie an ausgewählte Vertreter der MfS-Führung. In der Regel waren das Minister Mielke, seine Stellvertreter Rudi Mittig und Gerhard Neiber, die Leiter der thematisch involvierten operativen Diensteinheiten – im Jahr 1985 vor allem der Leiter der für die Überwachung der Kirchen und der Opposition zuständigen HA XX Paul Kienberg – und Bezirksverwaltungen sowie einige wichtige Vertreterinnen und Vertreter der ZAIG, neben Werner Irmler oft die Offiziere für Sonderaufgaben im Bereich 1, Heinz Göbel und Ursula Schorm. Berichte über die westlichen Alliierten und über das Verhalten von sowjetischen Militärangehörigen wurden oft auch an den KGB in Berlin-Karlshorst weitergeleitet.159 Dabei ist zu beachten, dass Erich Mielke nicht nur die 41 in der Empfängertabelle aufgeführten Berichte zu sehen bekam. Bei diesen handelte es sich vermutlich um die Berichte, von denen er ein eigenes Exemplar einbehielt – womöglich um es mit führenden Partei- oder Staatsfunktionären persönlich zu besprechen. Darüber hinaus zeichnete Mielke in der Regel jedes Berichtsexemplar, das das MfS verließ, persönlich ab. Die Verteilerangaben der K- und O-Berichte weisen ihn hingegen praktisch immer als Empfänger aus, der Minister für Staatssicherheit kannte also alle ZAIG-Berichte.
Für die SED-Führung waren nur die »Informationen« vorgesehen. ZAIG-Chef Irmler entwarf für die »Informationen« jeweils einen externen Verteilervorschlag, über den Minister Mielke dann persönlich entschied. In der Regel erhielten nur wenige politisch und fachlich zuständige Funktionäre aus dem Partei- und Staatsapparat ein Exemplar. Meist umfasste der Verteiler im Jahr 1985 nicht mehr als drei bis vier externe Empfänger. Zu ihnen gehörten im Jahr 1985 aufgrund der thematischen Dominanz der Kirchen sehr häufig der Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der SED Rudi Bellmann, der zuständige ZK-Sekretär Werner Jarowinsky und der Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi. Viele Berichte gingen auch an den SED-Generalsekretär Erich Honecker persönlich und an den ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Egon Krenz. In der Regel erhielten auch die 1. Sekretäre der zuständigen SED-Bezirksleitungen sowie Mitglieder des Ministerrates, etwa Minister Oskar Fischer (Auswärtige Angelegenheiten), Herta König (stellvertretende Finanzministerin) und Friedrich Dickel (Inneres), ihren Bereich betreffende Berichte.
Wie die »Informationen« von der Staats- und Parteiführung konkret aufgenommen und genutzt wurden, lässt sich nur schwer sagen. Eine gewisse Wirkung ist jedoch anzunehmen bei einem über einen so langen Zeitraum entwickelten und ausgefeilten Berichtswesen. Zwar waren die geheimen ZAIG-Berichte bei weitem nicht die einzige Informationsquelle, die Staat und Partei zur Grundlage von politischen Entscheidungen machen konnten, doch beweisen einige überlieferte Reaktionen auf die Berichte, wie z. B. handschriftliche zustimmende Vermerke oder Markierungen, dass die Berichte nicht nur überflogen, sondern zumindest teilweise auch durchgearbeitet wurden.160 Eine politische Wirkung der Berichte ist ebenso anzunehmen, weil oft konkrete Handlungsempfehlungen gegeben werden. Vor allem in Bezug auf innerkirchliche Debatten und Aktivitäten oppositioneller Gruppen beschrieb das MfS nicht nur einzelne Vorgänge, sondern legte immer wieder auch konkrete Reaktionsweisen nahe. Außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass diese Berichte auch in den regelmäßigen Vier-Augen-Gesprächen zwischen Honecker und Mielke eine Rolle gespielt haben.
6. Druckauswahl und Formalia
In dieser Buchausgabe liegt eine Auswahl der 194 edierten Dokumente des Jahres 1985 vor. Die Zusammenstellung umfasst sowohl standardmäßige Berichte als auch Exemplare mit besonderen formalen oder inhaltlichen Auffälligkeiten. In ihrer Gesamtheit sollen sie einen Eindruck von den Entwicklungen des Jahres und der Vielfalt der wiedergegebenen Ereignisse vermitteln. Die Abschriften aller edierten Berichte des Jahres 1985 sind vollständig auf der Website 1985.ddr-im-blick.de abrufbar. In Form einer Datenbank ist hier auch eine elektronische Volltextrecherche möglich.
Die Wiedergabe der Dokumente folgt grundsätzlich dem Original. Die Rechtschreibung ist den heutigen gültigen Regeln angeglichen. Während kleinere Tipp- und Rechtschreibfehler stillschweigend korrigiert werden, bleiben größere Orthografie- und Grammatikfehler aus Gründen der Quellenauthentizität unverändert. Ungewöhnliche Abkürzungen werden stillschweigend in übliche umgewandelt oder ausgeschrieben. Eventuelle Unterstreichungen, Randvermerke und Einkreisungen werden im Dokumentenkopf erwähnt, wenn sie gleichmäßig einen Großteil des Textes betreffen. Auf besondere Markierungen einzelner Wörter oder Sätze wird in einem Fußnotenkommentar aufmerksam gemacht.
Gemäß § 32 a des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wurden die in den Texten erwähnten Personen der Zeitgeschichte sowie Amts- und Funktionsträger öffentlicher Institutionen vor der Veröffentlichung von Informationen zu ihrer Person benachrichtigt, wenn die Angaben nach einer Einordnung verlangen oder über ihre reine Funktionstätigkeit hinausgehen. Betroffene, die nicht zu diesen Personenkreisen gehören, wurden um eine Einwilligung für die Publikation von Daten zu ihrer Person gebeten. Um den Schutz der Persönlichkeitsrechte zu gewährleisten, war es bei einigen wenigen Berichten notwendig, Passagen, Personennamen oder Adressenangaben zu anonymisieren. Die Aussagekraft der Quellen wird dadurch aber in keiner Weise beeinträchtigt, da es sich hierbei in der Regel um weniger relevante Angaben handelt. Die mitunter sehr aufschlussreichen Anmerkungen und Richtigstellungen von Personen, die sich auf Nachfrage zu den sie betreffenden Aussagen der Berichte äußerten, wurden den Dokumenten als Fußnotenkommentar hinzugefügt.
7. Schlussbetrachtung
Das Jahr 1985 war ein Übergangsjahr im mittlerweile gewohnten Krisenmodus, bevor die Tschernobyl-Katastrophe und Gorbatschows Reform-Agenda die (kommunistische) Welt erschütterten. SED und MfS schienen sich im kontinuierlichen Management der Dauerkrise aus Versorgungsproblemen, Umweltschäden und dem Verschleiß der Industrieanlagen eingerichtet zu haben, während die Bevölkerung resignierte und sich die politisch alternative Szene in einer Transformationsphase befand und nach neuen Themen, Organisations- und Aktionsformen jenseits der evangelischen Kirche suchte. In der geheimen Berichterstattung des MfS aus dem Jahr 1985 tauchen die Resignation und der Stillstand zwar auf, doch blieben die grundlegenden Probleme, in denen der SED-Staat steckte, vor allem auf die MfS-internen O- und K-Berichtsreihen beschränkt, während die an Staats- und Parteiführungen gerichteten Informationen isolierte Sachverhalte behandelten oder in Form routinierter Standard-Berichtsreihen daherkamen. In der Folge lesen sich die MfS-internen K- und O-Berichte aus heutiger Perspektive zum Teil um einiges spannender als etwa die detaillierten Schilderungen kircheninterner Beratungen, etwa bei den Synoden, die die ZAIG an den ZK-Apparat und das Staatssekretariat für Kirchenfragen versandte und die einen beträchtlichen Anteil an der Gesamtberichterstattung der ZAIG im Jahr 1985 ausmachten. Die Staatssicherheit war zwar im Bilde darüber, in welch gravierender Krisensituation sich die DDR befand und welche Auswirkungen das auf die Bevölkerung hatte, doch nutzte sie die ZAIG-Berichterstattung vor allem, um die Staats- und Parteiführung über Einzelvorkommnisse in Kenntnis zu setzen.
8. Anhang: Adressaten der Berichte 1985
Tabelle 1: Adressaten der Berichte 1985 außerhalb des MfSName, Vorname, Funktion | Information Nr. | Anzahl |
---|---|---|
Arndt, Otto (Jg. 1920) | 5 | |
Axen, Hermann (Jg. 1916) | 2 | |
Bellmann, Rudi (Jg. 1919) | 36, 38, 73, 54, 64, 69, 70, 84, 103, 105, 116, 117, 139, 150, 149, 151, 152a, 189, 207, 209, 208, 221, 231a, 232, 254, 255, 265, 266, 267, 286, 288, 289, 309, 320, 333, 360, 386, 398, 399, 412, 423, 453, 455, 468, 479, 480, 499 | 47 |
Dickel, Friedrich (Jg. 1913) | 8 | |
Dohlus, Horst (Jg. 1925) | 1 | |
Donda, Arno (Jg. 1930) | 4 | |
Feist, Manfred (Jg. 1930) | 1 | |
Felfe, Werner (Jg. 1928) | 2 | |
Fischer, Oskar (Jg. 1923) | 6 | |
Geggel, Heinz (Jg. 1921) | 4 | |
Gysi, Klaus (Jg. 1912) | 36, 38, 73, 54, 64, 69, 70, 84, 103, 105, 116, 117, 150, 149, 151, 152a, 189, 207, 209, 208, 221, 231a, 232, 254, 255, 265, 266, 267, 286, 288, 289, 309, 320, 333, 360, 386, 398, 399, 412, 423, 453, 455, 468, 479, 480, 499 | 46 |
Häber, Herbert (Jg. 1930) | 2 | |
Hager, Kurt (Jg. 1912) | 1 | |
Herger, Wolfgang (Jg. 1935) | 2 | |
Herrmann, Joachim (Jg. 1928) | 2 | |
Hoffmann, Heinz (Jg. 1910) | 2 | |
Honecker, Erich (Jg. 1912) | 41, 52, 54, 64, 69, 84, 50, 139, 152b, 170, 171, 186, 231b, 266, 346, 357, 362, 373, 376, 388, 398, 399, 423, 467, 500, 509 | 26 |
Honecker, Margot (Jg. 1927) | 1 | |
Jarowinsky, Werner (Jg. 1927) | 36, 38, 73, 70, 84, 103, 105, 116, 117, 139, 150, 149, 151, 152a, 189, 207, 209, 208, 221, 231a, 232, 254, 255, 265, 266, 267, 286, 288, 289, 309, 333, 360, 386, 399, 412, 423, 453, 455, 468, 479, 480, 499 | 42 |
Keßler, Heinz (Jg. 1920) | 1 | |
KGB Berlin-Karlshorst »AG« | 7 | |
König, Herta (Jg. 1929) | 15, 19, 37, 40, 51, 53, 63, 83, 93, 94, 104, 107, 126, 138, 140, 161, 173, 188, 198, 210, 222, 233, 235, 245, 264, 268, 287, 298, 308, 310, 323, 335, 347, 359, 372, 377, 387, 389, 401, 411, 414, 424, 433, 443, 454, 466, 469, 478, 489, 498, 510, 522 | 52 |
Krenz, Egon (Jg. 1937) | 106, 135, 171, 152a, 187, 254, 285, 286, 289, 307, 320, 321, 360, 388, 398, 410, 413, 423 | 18 |
Krolikowski, Herbert (Jg. 1924) | 4 | |
Krolikowski, Werner (Jg. 1928) | 4 | |
Lietz, Bruno (Jg. 1925) | 2 | |
Mittag, Günter (Jg. 1926) | 4 | |
Mitzinger, Wolfgang (Jg. 1932) | 1 | |
Naumann, Konrad (Jg. 1928) | 10 | |
Neumann, Alfred (Jg. 1909) | 1 | |
Nier, Kurt (Jg. 1927) | 2 | |
Ragwitz, Ursula (Jg. 1928) | 1 | |
Rauchfuß, Wolfgang (Jg. 1931) | 2 | |
Reichelt, Hans (Jg. 1925) | 1 | |
Schabowski, Günter (Jg. 1929) | 2 | |
Schürer, Gerhard Paul (Jg. 1921) | 1 | |
Stoph, Willi (Jg. 1914) | 1 |
Name, Vorname, Funktion | Information-Nr. | Anzahl |
---|---|---|
Abteilung Finanzen | 15, 19, 37, 51, 53, 63, 83, 93, 94, 104, 107, 138, 140, 173, 188, 198, 222, 233, 235, 298, 308, 310, 323, 377, 387, 389, 401, 411, 433, 443, 454, 466, 478, 510, 522 | 35 |
AGM (Arbeitsgruppe des Ministers) | 4 | |
Alle Stellvertreter Operativ der Bezirksverwaltungen (15 Exemplare) | 1 | |
Bestier, Gerhard (Jg. 1933) | 1 | |
Böhm, Horst (Jg. 1937) | 2 | |
Braun, Edgar (Jg. 1939) | 3 | |
Brückner, Lothar (Jg. 1933) | 2 | |
Büchner, Joachim (Jg. 1929) | 72, 137, 176, 211, 337, 358, 413, 456, 500, 512, O/138, K2/37, O/138b | 13 |
BV Berlin | 1 | |
BV Berlin/AKG | 7 | |
BV Schwerin/AKG | 1 | |
Carlsohn, Hans (Jg. 1928) | 1 | |
Coburger, Karli (Jg. 1929) | 4 | |
Damm, Willi (Jg. 1930) | 1 | |
Dietze, Manfred (Jg. 1928) | 6 | |
Dittrich, Fritz (Jg. 1936) | 1 | |
Fiedler, Heinz (Jg. 1929) | 52, 71, 72, 106, 135, 136, 137, 175, 176, 186, 187, 211, 212, 307, 321, 336, 337, 357, 362, 456, 457, 500, 512, O/146 | 24 |
Fischer, Karl (Jg. 1938) | 2 | |
Fister, Rolf (Jg. 1929) | 17, 186, 187, 285, 334, 346, 361, 375, 388, 413, K2/37, O/146 | 12 |
Fitzner, Horst (Jg. 1930) | 1 | |
Franz, Horst (Jg. 1933) | 1 | |
Frenzel, Karl-Heinz (Jg. 1940) | 3 | |
Gailat, Kurt (Jg. 1927) | 1 | |
Gehlert, Siegfried (Jg. 1925) | 1 | |
Geisler, Otto (Jg. 1930) | 388, K1/155, K1/156, O/136, O/137, O/139, O/140, O/141, O/143, O/148, O/148a, O/149, O/151 | 13 |
Giersch, Jean (Jg. 1934) | 2 | |
Göbel, Heinz (Jg. 1937) | 15, 19, 37, 40, 51, 53, 63, 71, 72, 83, 93, 94, 104, 107, 136, 137, 138, 140, 173, 175, 176, 186, 188, 198, 222, 233, 235, 310, 321, 323, 377, 387, 388, 389, 401, 411, 413, 433, 443, 454, 456, 457, 466, 469, 478, 510, 512, 513, 522 | 49 |
Großer, Karl (Jg. 1929) | 1 | |
Großmann, Werner (Jg. 1929) | 8 | |
Grünberg, Gerhard (Jg. 1920) | 6 | |
HA VI | 1 | |
HA VII | 2 | |
HA VIII/3 | 2 | |
HA XX/2 | 3 | |
HA XX/4 | 36, 38, 73, 54, 64, 69, 70, 84, 103, 105, 116, 117, 139, 149, 150, 151, 152a, 172, 189, 207, 208, 209, 221, 231a, 232, 254, 255, 265, 266, 267, 288, 289, 309, 320, 333, 360, 386, 399, 412, 453, 455, 468, 479, 480, 499 | 45 |
HA XX/7 | 1 | |
HA XX/AKG | 10 | |
Hackenberg, Günter (Jg. 1931) | 2 | |
Hempel, Martin (Jg. 1948) | 1 | |
Hennig, Werner (Jg. 1928) | 40, 126, 161, 210, 245, 264, 268, 287, 335, 347, 359, 372, 414, 424, 469, 489, 498 | 17 |
Hummitzsch, Manfred (Jg. 1929) | 2 | |
HV A/II | 2 | |
HV A/VII | 1 | |
Irmler, Werner (Jg. 1930) | K1/148, K1/150, K1/151, K1/152a, K1/152b, K1/153b, K1/155, K1/156, K1/157, K1/158, K2/35, K2/36, K2/37, K3/73, K3/74, O/135, O/136, O/138, O/138a, O/138b, O/139, O/141, O/142, O/143, O/144, O/147, O/149, O/150, O/151, O/153 | 30 |
Janßen, Horst (Jg. 1929) | 2 | |
Kienberg, Paul (Jg. 1926) | 36, 38, 73, 54, 64, 69, 70, 84, 50, 103, 105, 116, 117, 135, 139, 150, 149, 171, 151, 152a, 189, 207, 209, 208, 221, 231a, 231b, 232, 254, 255, 265, 266, 267, 285, 286, 288, 289, 309, 320, 321, 333, 360, 386, 398, 399, 412, 423, 453, 455, 468, 479, 480, 499, 509, K1/150, K1/151, K1/152a, K1/152b, K1/153a, K1/153b, K3/74, O/142, O/144, O/145, O/149, O/153 | 66 |
Kleine, Alfred (Jg. 1930) | 10 | |
Koch, Peter (Jg. 1929) | 1 | |
Korth, Werner (Jg. 1929) | 2 | |
Kratsch, Günther (Jg. 1930) | 8 | |
Lange, Gerhard (Jg. 1935) | 1 | |
Leibholz, Siegfried (Jg. 1925) | 1 | |
Lemme, Udo (Jg. 1941) | 1 | |
Mann, Herbert (Jg. 1930) | 1 | |
Mielke, Erich (Jg. 1907) | 41, 358, 376, K1/148, K1/150, K1/151, K1/152a, K1/152b, K1/153a, K1/153b, K1/155, K1/156, K1/157, K1/158, K2/35, K2/36, K2/37, K3/73, K3/74, O/135, O/136, O/137, O/138, O/138a, O/138b, O/139, O/140, O/141, O/142, O/143, O/144, O/145, O/146, O/147, O/148, O/148a, O/149, O/150, O/151, O/152, O/153 | 41 |
Mittag, Rudolf (Jg. 1929) | 1 | |
Mittig, Rudi (Jg. 1925) | 13, 14, 17, 36, 16, 38, 41, 52, 73, 54, 64, 69, 70, 84, 50, 103, 105, 106, 116, 117, 135, 137, 139, 150, 149, 171, 151, 152a, 186, 187, 189, 207, 208, 209, 211, 221, 231a, 231b, 232, 234, 254, 255, 265, 266, 267, 285, 286, 288, 289, 307, 309, 320, 321, 333, 334, 346, 357, 348, 362, 360, 373, 374, 386, 398, 399, 412, 423, 453, 455, 468, 467, 479, 480, 499, 500, 509, 512, K1/150, K1/151, K1/152a, K1/152b, K1/153a, K1/153b, K1/155, K1/156, K1/158, K1/160, K3/73, K3/74, O/136, O/137, O/138, O/138a, O/138b, O/139, O/140, O/141, O/142, O/143, O/144, O/145, O/146, O/147, O/148, O/148a, O/149, O/150, O/151, O/152, O/153 | 110 |
Müller, Wilfried (Jg. 1931) | 1 | |
Neiber, Gerhard (Jg. 1929) | 17, 41, 52, 82, 106, 135, 137, 152b, 170, 171, 174, 186, 187, 211, 234, 307, 321, 324, 334, 346, 357, 358, 348, 362, 410, 413, 444, 500, 509, 512, K1/148, K1/150, K1/151, K1/152a, K1/152b, K1/153a, K1/155, K1/156, K1/157, K2/37, K3/73, O/136, O/137, O/138, O/138a, O/139, O/138b, O/140, O/141, O/142, O/143, O/144, O/145, O/146, O/147, O/148, O/148a, O/149, O/150, O/151, O/152 | 61 |
Niebling, Gerhard (Jg. 1932) | 8 | |
OdH bzw. ODH/ZAIG (Offizier des Hauses ) | 3 | |
Oettel, Karl (Jg. 1933) | 1 | |
Pniok, Helfried (Jg. 1935) | 1 | |
Poppitz, Peter (Jg. 1937) ZAIG Bereich 1, Leiter der AG 3 | 3 | |
Rebohle, Eberhard (Jg. 1943) | 3 | |
Riedel, Klaus-Dieter (Jg. 1941) | 2 | |
Rüdiger, Falk (Jg. 1941) | 1 | |
Scharl, Gerhard (Jg. 1937) | 1 | |
Schickart, Helmut (Jg. 1931) | 2 | |
Schmidt, Heinz (Jg. 1930) | 3 | |
Schorm, Ursula (Jg. 1934) | 84, 50, 103, 139, 150, 172, 189, 289, 309, 453, 455, 468, 499 | 13 |
Schwanitz, Wolfgang (Jg. 1930) | 82, 135, 136, 152a, 174, 187, 189, 207, 212, 221, 232, 255, 286, 324, 346, 399, 423, 480, 444 | 19 |
Schwarz, Josef (Jg. 1932) | 1 | |
Stöß, Herbert (Jg. 1923) | 2 | |
Tannhäuser, Dieter (Jg. 1936) | 2 | |
Taube, Rudi (Jg. 1926) | 2 | |
Thomas, Wolfgang (Jg. 1931) | 1 | |
Volpert, Heinz (Jg. 1932) | 2 | |
Wolf, Markus (Jg. 1923) | 4 | |
ZAIG, Bereich 1 | 14, 17, 36, 16, 38, 41, 73, 54, 64, 69, 70, 82, 105, 106, 116, 117, 126, 149, 152a, 152b, 161, 170, 171, 207, 209, 208, 210, 211, 212, 221, 231a, 231b, 232, 245, 254, 255, 264, 265, 266, 267, 268, 285, 286, 287, 288, 298, 307, 308, 324, 333, 334, 335, 336, 337, 346, 347, 348, 357, 358, 359, 360, 361, 362, 372, 373, 398, 399, 414, 424, 479, 480, 489, 498, K1/153b, K1/158, O/135, O/147, O/148a | 78 |
ZAIG, Bereich 1, AG 2 | 2 | |
ZAIG, Bereich 1, AG 3 | 2 | |
ZAIG, Bereich 1, AG 4 | 2 | |
ZAIG, Bereich 1, AG 4, Referat Funkmedien | 3 | |
ZAIG, Bereich 1, AG 6 | 6 | |
ZAIG, ZOS | 1 | |
ZKG | 2 | |
ZOS | 2 | |
ZOS/2 | 1 |