Festnahmen von NVA-Angehörigen
24. August 1985
Information Nr. 361/85 über die Festnahme von zwei Unteroffizieren der 4. Motorisierten Schützendivision (MSD) und eines Soldaten des Pionierbaubataillons-24
1. Am 2. August 1985 erfolgte durch den Militärstaatsanwalt der 4. Motorisierten Schützendivision Erfurt die Festnahme der Unteroffiziere der 2. Geschosswerferbatterie des II. Motorisierten Schützenbataillons im MSR-24, Körber, Roberto (23),1 Werferführer, Mitglied der SED, und Ruppert, Detlef (21),2 Werferführer, und die Einleitung von Ermittlungsverfahren mit Haft gemäß § 267 StGB (Angriff, Widerstand und Nötigung gegen Vorgesetzte, Wachen, Streifen oder andere Militärpersonen).3
Die durch das MfS geführten Überprüfungen ergaben, dass die ansonsten ihre dienstlichen Aufgaben überwiegend anforderungsgerecht erfüllenden Täter seit April 1984 schwerwiegende Verstöße gegen die sozialistischen Beziehungen4 in ihrer Einheit begingen.
Sie drangsalierten und misshandelten mehrere im Dienstalter jüngere Unteroffiziere mit dem Ziel, sich damit Sonderstellungen zu schaffen und darauf aufbauend Vorteile zu erlangen bzw. durchzusetzen.
Verschiedene Angehörige der Einheit wurden durch sie entwürdigenden Befragungen unterzogen, wobei sie gezwungen wurden, Angaben über ihr Intimleben sowie zu ihren militärischen Kenntnissen zu machen. In mindestens 30 Fällen gingen die Täter dabei mit tätlichen Angriffen in Form von Hand- und Faustschlägen vor.
Weiterhin erzwangen beide durch Androhung oder Vollzug physischer bzw. psychischer Schikanen von anderen Einheitsangehörigen »persönliche Dienstleistungen«, wie die Zubereitung und das Servieren von Esswaren und Getränken zu allen Tages- und Nachtzeiten, die Durchführung von Einkäufen sowie Reinigungs- und Aufräumungsarbeiten.
Bei Einwänden oder Widerstand gegen derartige Handlungen gingen sie ebenfalls mit körperlicher Gewalt vor.
Der als Stellvertreter des Hauptfeldwebels fungierende Körber missbrauchte seine dienstlichen Befugnisse, indem er nach eigenem Ermessen den Soldaten und Unteroffizieren seiner Batterie Urlaub bzw. Ausgang erteilte oder entzog, ohne dazu berechtigt zu sein.
Wie weiter festgestellt wurde, war dieses Vorgehen der Führung der Granatwerferbatterie seit April 1984 bekannt. An den Batteriechef, Major Woßeng,5 sowie dessen Stellvertreter, Oberleutnant Hein,6 gerichtete Beschwerden wurden von diesen ignoriert, wobei sie den Beschwerdeführenden gegenüber erklärten, derartige Handlungen seien notwendige Maßnahmen der »Selbsterziehung«, die keine eigene Einflussnahme auf das Zusammenleben der Angehörigen dieser Einheit bzw. eine disziplinare Ahndung erfordern würden.
Unter den Betroffenen verbreitete sich daraufhin Resignation, da auch die Parteifunktionäre7 der Einheit ihrer Verantwortung nicht nachkamen. Wie die weiteren Überprüfungen ergaben, erhielt Körber durch ein GO-Leitungsmitglied und Parteigruppenorganisator der Batterie (Oberfeldwebel Tepper8) jegliche Deckung, da er diesem einen großen Teil seiner dienstlichen Aufgaben abnahm, was Tepper dazu nutzte, um persönlichen Interessen während der Dienstzeit nachzugehen.
Anlässlich eines Appells äußerte Tepper gegenüber Unteroffizieren, dass Beschwerden sinnlos seien, da diese von ihm ohnehin nicht weitergeleitet würden. Die sozialistischen Beziehungen bezeichnete er in diesem Zusammenhang als ihn nicht interessierenden »Müll«.
Der Batteriechef, Major Woßeng, hatte umfassend Kenntnis von den rechts- und disziplinwidrigen Handlungen des Körber, unterließ es jedoch, ernsthaft gegen die bezeichneten Vorgänge einzuschreiten.
Um den tatsächlichen politisch-moralischen Zustand in seiner Einheit zu verschleiern und mögliche Auswirkungen auf seine persönliche Entwicklung zu verhindern, wurden diesbezügliche Berichte durch ihn und seinen Stellvertreter an vorgesetzte Dienststellen mit wahrheitswidrigen Angaben verfasst und weitergeleitet, wodurch es möglich war, dass die Einheit im April 1985 als »Beste Batterie«, Major Woßeng als »Bester Batteriechef«, Oberleutnant Hein als »Bester Zugführer«, Oberfeldwebel Tepper als »Bester Hauptfeldwebel« und Unteroffizier Ruppert als »Bester Werferführer« ausgezeichnet wurden.
Die Vorgänge in der 2. Granatwerferbatterie bewirkten nach weiter vorliegenden Hinweisen einen erheblichen Vertrauensverlust bei den Angehörigen dieser Einheit in die führende Rolle der Partei als auch in die Wahrnehmung der Verantwortung durch die dienstlichen Vorgesetzten. Mehrere Unteroffiziere der Einheit brachten im Rahmen der Überprüfung zum Ausdruck, ihre Entscheidung zu einem dreijährigen Wehrdienst bereut zu haben.
Im Ergebnis des gegen Körber durchgeführten Parteiverfahrens erfolgte dessen Ausschluss aus der SED. Es ist vorgesehen, gegen Major Woßeng, Oberleutnant Hein und Oberfeldwebel Tepper disziplinare Maßnahmen durchzuführen.
Nach Bekanntwerden des Sachverhaltes wurden durch die Führung der 4. MSD Untersuchungen zum politisch-moralischen Zustand im gesamten Verband veranlasst. Diese ergaben, dass auch in anderen Einheiten Störungen der sozialistischen Beziehungen sowie Bemühungen von Vorgesetzten, diese Erscheinungen zu vertuschen, vorhanden sind.
Durch die zuständigen Kommandeure sowie Politorgane erfolgen im genannten Verband differenzierte Auswertungen. Der Leiter der Polit-Abteilung der 4. MSD richtete an alle Kommandeure die Forderung, den politisch-moralischen Zustand der Einheit real einzuschätzen, gegen Störungen der sozialistischen Beziehungen bedingungslos vorzugehen, jegliche Vorrechte der Angehörigen älterer Diensthalbjahre abzuschaffen sowie monatliche Einschätzungen zum Stand der Entwicklung der sozialistischen Beziehungen zu erarbeiten. Zur Durchsetzung dieser Aufgaben sind konkrete Kontrollmaßnahmen vorgesehen.
Zur Wiederherstellung der vollen Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft des II. MSB wurde eine Arbeitsgruppe der Politabteilung gebildet, der die Aufgabe gestellt wurde, die Herausbildung bzw. Festigung eindeutiger Kampfpositionen zu erreichen sowie negative Folgen der Vorkommnisse auf den politisch-moralischen Zustand vor allem in Hinblick auf die Vorbereitung der Parteiwahlen konsequent zu überwinden.
2. Am 6. August 1985, gegen 2.00 Uhr wurde der Soldat im Grundwehrdienst, [Name, Vorname] (24), Baupionier, Pionierbaubataillon-24 Potsdam, zurzeit Dienststelle Laage, LSK/LV, während seines Dienstes als Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst aus dem Dienstobjekt fahnenflüchtig, um sich einer angedrohten Disziplinarstrafe wegen unbefugter Kfz-Benutzung zu entziehen. Zuvor war er gewaltsam in die Waffenkammer seiner Einheit eingedrungen und hatte daraus zwei Pistolen »Makarow« sowie 168 Patronen entwendet, mit dem Ziel, sich zunächst in Burg bei Magdeburg bei Bekannten (gegen sie wurde am 14. August 1985 wegen Unterlassung der Anzeige ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erlassen) zu verbergen sowie in der Folgezeit in das Territorium der VR Polen einzudringen, die Botschaft der BRD in Warschau aufzusuchen und auf diese Art und Weise die Ausreise in die BRD zu erzwingen.
Die mitgeführten Waffen beabsichtigte er gegen Kräfte der Schutz- und Sicherheitsorgane anzuwenden, um seine Festnahme unter allen Umständen zu verhindern.
Im Ergebnis unverzüglich eingeleiteter Fahndungsmaßnahmen wurde [Name] am 6. August 1985, 20.00 Uhr in der Wohnung der Bekannten in Burg festgenommen und gegen ihn ein Ermittlungsverfahren gemäß § 254 StGB (Fahnenflucht) eingeleitet.9 Auf gleicher Rechtsgrundlage wurde Haftbefehl erlassen.
Die bisher geführten Untersuchungen ergaben, dass der Kommandeur des PiB-24, Oberstleutnant Illgen,10 am 30. Juli 1985 während eines Bataillonsappells eine durch [Name] gemeinsam mit einem weiteren Angehörigen der Einheit unter Alkoholeinfluss begangene unbefugte Kfz-Benutzung auswertete.
Dabei kündigte er – ohne sich hierüber mit dem verantwortlichen Militärstaatsanwalt abzustimmen – zur Disziplinierung der Genannten die Verhängung von einem Monat Dienst in der Disziplinareinheit Schwedt,11 die Durchführung eines Ordnungsstrafverfahrens mit einer vorgesehenen Geldstrafe in Höhe von 1 000 Mark sowie den Entzug des Führerscheins für die Dauer von 5 Jahren an.
Da die Bemühungen des über keine Ersparnisse verfügenden Täters um eine Milderung insbesondere der finanziellen Sanktionen während geführter Aussprachen mit dem Kompaniechef, Oberleutnant Rotter,12 und dem Politstellvertreter seiner Einheit, Oberleutnant Trapp,13 zurückgewiesen worden waren, geriet der bis zu diesem Zeitpunkt einen ordnungsgemäßen Dienst verrichtende Soldat in eine Konfliktsituation, aus der heraus er sich noch am Abend des 30. Juli 1985 zur Fahnenflucht entschloss. Zu diesem Zweck forderte er zwei weitere Angehörige seiner Einheit zur Fahnenflucht auf.
Beide lehnten zwar die Beteiligung an dieser Straftat ab, unterließen es jedoch aufgrund ihrer politisch-ideologisch unklaren Position und aus falsch verstandener Kameradschaft, das ihnen zur Kenntnis gelangte strafbare Vorhaben des [Name] zur Anzeige zu bringen.
(Gegen beide Militärpersonen wurden wegen Unterlassung der Anzeige Ermittlungsverfahren eingeleitet.)
Wie die Untersuchungen weiter ergaben, kam der Offizier vom Dienst (OvD) dieser Einheit seinen ihm auferlegten Kontrollpflichten nicht nach, sodass die Abwesenheit des [Name] aus der Einheit erst um 5.50 Uhr festgestellt wurde.
Zielgerichtete Such- und Fahndungsmaßnahmen wurden erst ab 10.25 Uhr eingeleitet, nachdem der Einbruch in die Waffenkammer und der Diebstahl der Pistolen festgestellt worden waren.
Begünstigend für die Begehung der Straftat wirkte sich auch aus, dass die Waffenkammer der Kompanie lediglich durch eine mittels Vorhängeschloss gesicherte Gittertür sowie petschierte Holztür14 gesichert war.
[Name] öffnete am 6. August 1985 unbemerkt und problemlos die Gittertür mit seinem Briefkastenschlüssel und erbrach nach Lösen der Petschierung die Holztür mit einem Beil. Bei Verlassen der Waffenkammer schloss er beide Türen oberflächlich und täuschte durch Auflegen des Fadens auf die Knetmasse eine intakte Petschierung vor.
Weder der Unteroffizier vom Dienst (Unteroffizier vom Dienst) der Einheit (6.00 Uhr) noch ein Oberfähnrich (7.30 Uhr), die an der Waffenkammer Sichtkontrollen durchführten, stellten den Einbruch fest.
Der bestehende Befehl, wegen einer räumlichen Trennung zwischen der Waffenkammer und dem Dienstplatz des Unteroffizier vom Dienst, einen zweiten Gehilfen des Unteroffizier vom Dienst zur Sicherung der Waffenkammer einzusetzen, wurde nachts nicht befolgt.
Darüber hinaus ist festzustellen. dass die Angehörigen des PiB-24 im Schichtdienst und unter komplizierten Feldbedingungen Staatsplanaufgaben zur Fertigstellung des Flugplatzes Laage erfüllen. Daraus zum Teil resultierende Vernachlässigungen in der ordnungsgemäßen Durchführung des Garnisonsdienstes sowie unter dem Niveau anderer Einheiten und Truppenteile der NVA liegende Kultur- und soziale Leistungen sind der zuständigen militärischen Führung bekannt. Maßnahmen zur Veränderung dieser Situation sind in Vorbereitung.
Im Zusammenwirken mit Kommandeuren und Politorganen wurden Maßnahmen eingeleitet, die festgestellten Mängel und Verstöße gegen die bestehenden dienstlichen Bestimmungen kurzfristig zu beseitigen.