Flucht eines Wasserschutzpolizisten
27. September 1985
Information Nr. 410/85 über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch einen Angehörigen der Deutschen Volkspolizei/Wasserschutz am 19. September 1985 nach Westberlin
Am 19. September 1985, gegen 12.00 Uhr hat der Obermeister der VP, Röhricht, Joachim1 (34), geboren am [Tag, Monat] 1951 wohnhaft Potsdam, [Straße, Nr.], Bootsführer und Maschinist VPKA Potsdam, Wasserschutzrevier Potsdam, Mitglied der SED, unter Missbrauch seiner dienstlichen Befugnisse sowie Nutzung begünstigender Bedingungen und Umstände, mit dem Dienstboot WS-12, während seines Dienstes im Bereich des Grenzgewässers Havelwasserstraße, unter Mitführung seiner Dienstpistole und 16 Patronen, die DDR ungesetzlich nach Westberlin verlassen.2
(Das Wasserschutzboot wurde – nach entsprechender Forderung der DDR – am 23. September 1985 durch die Westberliner Seite übergeben.)
Zu den Motiven seiner Handlung liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor.
Röhricht ist seit 1977 Angehöriger der Deutschen Volkspolizei und seit Oktober 1982 als Bootsführer und Maschinist im Wasserschutzrevier des VPKA Potsdam in den Grenzgewässern zu Westberlin eingesetzt.
Er wurde 1980 von seiner Ehefrau geschieden, lebte jedoch seit 1981 wieder mit ihr und zwei gemeinsamen Kindern in einem Haushalt.
Seitens seiner Dienstvorgesetzten wurde ihm eine ordnungsgemäße Dienstdurchführung bescheinigt. Gesellschaftspolitisch trat er kaum in Erscheinung.
Im April 1984 erfolgte die Übersiedlung der Schwester seiner geschiedenen Ehefrau und im Mai 1985 die Übersiedlung [von] deren Mutter nach der BRD. In diesem Zusammenhang und aufgrund seiner gesellschaftlichen Inaktivität erfolgten durch die Dienstvorgesetzten mehrere Auseinandersetzungen mit Röhricht, in deren Ergebnis er sich von den übersiedelten Personen distanzierte. Diesen verbalen Einlassungen des Röhricht vertrauend, wurden weder im Wasserschutzrevier noch im VPKA Potsdam weitergehende Maßnahmen, wie z. B. seine Herauslösung aus dem Dienst in den Grenzgewässern der DDR, in Erwägung gezogen.
Im Ergebnis der geführten Untersuchungen wurde bekannt, dass Röhricht seine Straftat offenkundig bereits über eine bestimmte Zeit vorbereitete, ohne andere Personen in sein Vorhaben einzubeziehen. So wurden mit Datum vom 23. August 1985 eine Schenkungsurkunde seines Pkw »Trabant« an seine geschiedene Ehefrau und vom 15. September 1985 eine Vollmacht zum Abheben von Geld von seinem Konto, die er beide in den Kfz-Brief eingelegt hatte, aufgefunden.
Am 19. September 1985 war Röhricht (als Maschinist) gemeinsam mit einem Obermeister der VP (Bootsführer) und einem Meister der VP (Einsatzkraft) seit 4.45 Uhr mit dem Wasserschutzboot WS-12 auf der Transit-Binnenwasserstraße zum Dienst eingesetzt, wobei keine Besonderheiten im Verhalten des Röhricht festgestellt wurden.
Gegen 11.30 Uhr legten sie an der Bootsanlegestelle der Bootskompanie des Grenzregimentes – 44 Potsdam – Babelsberg an (befohlener Pausenort) und begaben sich zur Einnahme des Mittagessens in das Objekt, wobei der Täter weisungsgemäß die Schlüssel des Bootes (Zünd- und Kajütschlüssel) an sich nahm. Die Maschinenpistole und die Munition verblieben während dieser Zeit auf dem Boot.
Nach dem Mittagessen suchten die zwei anderen Besatzungsmitglieder die Verkaufsstelle des Objektes auf.
Diesen Umstand nutzend, begab sich Röhricht allein durch das durch einen Angehörigen der Grenztruppen gesicherte Tor zum Hafen, startete das Boot, fuhr mit normaler Geschwindigkeit die übliche Kontrollfahrstrecke, legte unmittelbar vor dem Überqueren der Staatsgrenze auf einem im Wasser befindlichen Doppeldalben3 die Maschinenpistole, drei Magazine mit 90 Patronen, eine Leuchtpistole mit Munition, die Dienstunterlagen und die Dienstflagge des Bootes ab und wurde nach Westberlin flüchtig.
Im Ergebnis der Untersuchungen wurden folgende Umstände und Bedingungen herausgearbeitet, die das ungesetzliche Verlassen der DDR durch Röhricht begünstigten:
Den zur Sicherung des Hafens der Bootskompanie eingesetzten Angehörigen der Grenztruppen der DDR waren die dienstlichen Pflichten der Angehörigen/Besatzungen der Wasserschutzpolizei für das Benutzen und Verlassen der Boote (gemeinsam durch die vollständige Besatzung) nicht bekannt. Seit längerer Zeit wurde durch die Bootsbesatzungen der Wasserschutzpolizei gegen diese Weisungen verstoßen. Diese zur Gewohnheit gewordenen Verstöße nutzte der Röhricht für die Tatausführung.
In der Führungs- und Leitungstätigkeit des Leiters des Wasserschutzreviers Potsdam und seines Stellvertreters wurde eine Reihe von Mängeln festgestellt, die zunehmend zu Erscheinungen der Unzufriedenheit und Dienstunlust unter den Angehörigen dieses Reviers führten. Derartige Mängel zeigten sich insbesondere in der Planung und Organisation des Dienstes, im persönlichen Umgang der Dienstvorgesetzten mit den Unterstellten, der Vernachlässigung der Hilfe und Anleitung, der politisch-ideologischen Motivierung der Angehörigen sowie der Einhaltung der Kaderprinzipien für den Dienst an der Staatsgrenze der DDR.
Im Ergebnis der Untersuchung des Vorkommnisses wird vorgeschlagen:
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im Ministerium des Innern eine gründliche und differenzierte Auswertung des Vorkommnisses mit dem Ziel durchzuführen, die politische und fachliche Führung der an der Staatsgrenze der DDR, insbesondere auf den Grenzgewässern eingesetzten Angehörigen der DVP auf eine konsequente Erfüllung der befohlenen Aufgabe auszurichten, die auf der Grundlage der Befehle und Weisungen des MdI durch die BdVP getroffenen Festlegungen zur Sicherung der Grenzgewässer den konkreten territorialen Bedingungen besser anzupassen sowie die unbedingte Einhaltung der Kaderprinzipien zu sichern und eine jederzeit revolutionäre Wachsamkeit zu garantieren;
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durch das Ministerium des Innern sowie die Grenztruppen der DDR prüfen zu lassen, inwieweit die zwischen den Dienststellen der DVP und den Grenztruppen der DDR getroffenen Vereinbarungen zum Zusammenwirken der Kräfte und Mittel zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR und zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung sowie deren Wirksamkeit den konkreten territorialen und aufgabenbezogenen Anforderungen entsprechen;
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zu prüfen, die Wasserschutzboote durch das Verwenden mehrerer Schlüssel für das Starten eines Bootes zusätzlich vor missbräuchlicher Benutzung zu sichern (analog wie bei den Grenztruppen der DDR, wo mindestens zwei Schlüssel benötigt werden, um ein Boot zu starten, wobei je einen Schlüssel der Bootsführer und der Motorenmeister ständig bei sich tragen).