Haltungen Willy Brandts vor seinem geplanten DDR-Besuch
9. September 1985
Information Nr. 376/85 über die Haltung des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt im Zusammenhang mit seinem geplanten Aufenthalt in der DDR (18. bis 20.9.1985)
Dem MfS liegen streng interne Angaben über einige Überlegungen und Vorstellungen Brandts1 zu seinem Auftreten in der DDR und zum Ablauf seines Besuches vor.2
Für Brandt sei bei seinem öffentlichen Auftreten in der DDR – er denke dabei besonders an die internationale Pressekonferenz – wichtig, zur Frage der »Spaltung Deutschlands« Stellung zu nehmen. Diesem Problem messe er eine besondere Bedeutung bei. Er habe zwar noch nicht die endgültige Form seines Auftretens gefunden, wolle aber zum Ausdruck bringen, dass es keine ewige Pflicht zur Akzeptierung der »Spaltung« gebe.
Er beabsichtige damit, ein Signal zu geben und erwartet, dass er auch von anderen verstanden werde. Auch wenn er sich zu diesem Thema sehr vorsichtig und gewählt ausdrücken und keine »Holzhammerpolitik« betreiben wolle, nimmt er an, dass die Bürger der DDR sehr schnell verstehen würden, in welche Richtung solche Äußerungen zielen, da sie wesentlich aufmerksamer als die Bürger der BRD derartige Probleme verfolgten.
Große Bedeutung misst Brandt auch seiner Tischrede anlässlich eines gemeinsamen Essens mit Genossen Honecker3 bei. Da diese veröffentlicht werden soll, beabsichtigt er, seine Formulierungen sehr genau abzuwägen.
Nach Darstellung Brandts gestalte sich die Vorbereitung seiner DDR-Reise äußerst schwierig, sodass er bereits erwogen hätte, sie kurzfristig abzusagen. Das sei allerdings aus politischen Gründen nicht mehr möglich. Als Grund seiner diesbezüglichen Bedenken führte er in erster Linie an, dass ihm seitens der DDR während seines Aufenthalts keinerlei Möglichkeiten eingeräumt würden, zur Bevölkerung der DDR Kontakt aufzunehmen.
Er habe den Eindruck gewonnen, dass man ihn völlig von der Bevölkerung der DDR abkapseln wolle. Eine ähnliche Erfahrung habe er während seines Treffens mit Mitterrand4 auf dem Territorium der DDR gemacht, als keinerlei Kontaktaufnahme möglich gewesen sei.5
Politische Kreise um Willy Brandt stellten in diesem Zusammenhang fest, dass es ein Unterschied sei, ob sich Strauß6 oder Brandt unter die Bevölkerung der DDR mische. Bei Strauß sei nicht mit ähnlich großen Beifallsbekundungen zu rechnen, wie sie voraussichtlich Brandt erhalten würde. Die Führung der DDR habe schon immer sensibel auf Kontaktversuche prominenter BRD-Politiker gegenüber Bürgern der DDR reagiert. Es seien daher bei der Vorbereitung der Reise von Anfang an Schwierigkeiten zu erwarten gewesen.
Im Interesse seiner mit dem Aufenthalt in der DDR verfolgten Ziele hält es Brandt für besonders wichtig, mit Vertretern des Evangelischen Kirchenbundes der DDR Gespräche führen zu können. Er bedauert, dass diese Gespräche jedoch eine Ausnahme darstellten.
Hinsichtlich des vorgesehenen Museumsbesuches sei für ihn offenkundig geworden, dass ihm auch dort ein Zusammentreffen mit Bürgern der DDR versagt werden soll. Das Museum werde für die Zeit seines Aufenthalts für Bürger der DDR geschlossen bleiben.
Sein Wunsch, die Rückreise über Weimar anzutreten, sei den zuständigen Organen der DDR vermutlich ebenfalls nicht sehr angenehm, da sie möglicherweise befürchten, dass er dort Gespräche mit Bürgern der DDR führen werde.
Außerhalb des Besuchsprogramms plant Brandt, nach vorliegenden Hinweisen, in den Abendstunden des 18.9.1985 ein Zusammentreffen mit westlichen Journalisten in der Wohnung von Merseburger7 (eventuell auch in der Residenz in Niederschönhausen).
Es wird mit einem Teilnehmerkreis von ca. 50 Personen gerechnet, wobei gegenwärtig noch nicht erkennbar ist, inwieweit auch Bürger der DDR daran teilnehmen sollen.
Wie weiter bekannt wurde, hat Brandt eine Aufstellung von Personen erhalten, denen angeblich bereits seit längerer Zeit die Einreise in die DDR verweigert wird. Nach Darstellung Brandts habe er sich noch nicht entschieden, ob er diese konkreten Fälle beim Treffen mit Genossen Honecker zur Sprache bringen werde. Er sicherte jedoch zu, sich in der Folgezeit auf jeden Fall für die in der Aufstellung genannten Personen verwenden zu wollen. An ihn seien auch zahlreiche humanitäre Probleme herangetragen worden, die einer mehr oder weniger dringenden Klärung bedürften.
Aus SPD-Führungskreisen wurden Auffassungen bekannt, wonach die Reise Brandts in die DDR als ein Beitrag zur Entspannungspolitik8 gewertet werde. Es gehe aus innenpolitischen Gründen besonders auch darum, die aktive Rolle der SPD bei der Gestaltung einer auf Frieden orientierten Außenpolitik deutlich zu machen. Jedoch bewege sich die SPD dabei auf einem sehr schmalen Grat. Sie müsse – das treffe auf seine Moskau-Reise9 und seine Aktivitäten anlässlich des 15. Jahrestages des Abschlusses des Vertrages BRD – VR Polen10 ebenso zu wie auf seine DDR-Reise – darauf achten, dass das von der CDU ausgestreute Verleumdungsargument von der Moskau-Hörigkeit der SPD keine Nahrung erhalte.
Deshalb müsse die SPD mit großer Vorsicht an die Gespräche mit Vertretern der sozialistischen Staaten herangehen. Für die SPD könnten die Gesprächsergebnisse nur im Rahmen der Politik der Bundesregierung liegen. Andere Ergebnisse könne sie nicht vertreten. Ihre Aktivitäten dürften nicht als eine Kontraposition zur Bundesregierung ausgelegt werden.
Äußerungen Schmudes11 zur Deutschlandpolitik seien nicht mit der Parteiführung abgestimmt gewesen. Dahinter verberge sich nicht der Beginn einer neuen Politik gegenüber der DDR. Das sollte unmissverständlich gesagt werden, damit es in der DDR nicht zu falschen Interpretationen komme.
Von Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion würden mit dem DDR-Besuch Brandts Erwartungen verknüpft, die mit den bevorstehenden Wahlen zusammenhängen. Es würde als eine wichtige Geste empfunden werden, wenn Genosse Honecker öffentlich darauf verweisen könnte, dass die mit der jetzigen Regierung möglichen Vereinbarungen auch mit einer von der SPD geführten Regierung realisiert worden wären. Außerdem sollten sicherheitspolitische Gemeinsamkeiten formuliert werden, um damit ein Gebiet zu berühren, das die Regierung in den Beziehungen zur DDR bewusst ausklammert. Den persönlichen Intentionen Brandts würde auch eine gemeinsam formulierte Position zum Nord-Süd-Komplex entsprechen. Es müssten Erklärungen möglich sein, dass beide deutsche Staaten künftig zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme der Entwicklungsländer und mit konkreten Aktivitäten unter Nutzung der jeweiligen speziellen Möglichkeiten zur Eindämmung von Krisenherden beitragen wollen.
Ähnlich wie im Bereich der Sicherheit könnte durch eine entsprechende gemeinsame Absichtserklärung eine spätere SPD. Gemeint ist der Warschauer Vertrag von 1970. Er gehörte als Teil der sogenannten Ostverträge zu den wichtigsten Etappen von Brandts Entspannungspolitik. Darin erkannte die Bundesrepublik faktisch die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens an. Außerdem verzichteten beide Länder grundsätzlich auf Gebietsansprüche und bekannten sich zur friedlichen Lösung möglicher Konflikte. Darüber hinaus regelte der Vertrag die Übersiedlung in Polen lebender Deutscher in die Bundesrepublik. Begleitet wurde die Vertragsunterzeichnung von Willy Brandts bekanntem Kniefall vor dem Mahnmal für den Warschauer Ghetto-Aufstand 1943. geführte Regierung beim Wort genommen werden.
Nur wenige Mitglieder der SPD-Führung seien über die Details der DDR-Reise Brandts informiert. Die Fraktion sei lediglich über den Fakt in Kenntnis gesetzt worden.
Diese Information ist wegen akuter Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.