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Jahrestreffen Aktion Sühnezeichen in der DDR 28.–30.12.1984

14. Januar 1985
Information Nr. 36/85 über das Jahrestreffen der »Aktion Sühnezeichen« in der DDRAS«) vom 28. bis 30. Dezember 1984 in Berlin-Weißensee

In der Zeit vom 28. bis 30. Dezember 1984 fand in der Stephanusstiftung in Berlin-Weißensee das planmäßige Jahrestreffen der »Aktion Sühnezeichen«1 statt. Es stand unter dem Thema: »… und ich begehre nicht schuld daran zu sein«.2

Aus der DDR nahmen ca. 250 Personen, vorwiegend Studenten und Lehrlinge im Alter zwischen 18 und 20 Jahren teil. Es handelt sich überwiegend um solche Jugendliche, die 1984 an freiwilligen Arbeitseinsätzen der »AS«, sogenannten Aufbaulagern, in kirchlichen Objekten sowie Mahn- und Gedenkstätten teilnahmen.

Als ausländische Gäste waren zeitweilig anwesend: Brinkel, Wolfgang,3 Oberteuringen (BRD), organisatorischer Geschäftsführer der »Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V.« (»AS/F«), Sitz Westberlin, Raupach, Wolfgang,4 Holzminden (BRD), theologischer Geschäftsführer der »AS/F«, Dr. Gumlich, Gertrud,5 Hamburg (BRD), Vorsitzende des Vorstandes der »AS/F«, Müller, Johannes,6 Westberlin, Mitglied des Vorstandes der »AS/F«. (Der als Referent vorgesehen gewesene Prof. Dr. Gollwitzer, Helmut,7 hatte seine Teilnahme am Treffen aus familiären Gründen kurzfristig abgesagt.)

Aus der Volksrepublik Polen nahmen zwei und aus der Ungarischen Volksrepublik sechs Personen teil.

Internen Hinweisen zufolge traten die Vertreter der »AS/F« im Verlaufe des Jahrestreffens nicht politisch-negativ in Erscheinung und verhielten sich gegenüber den DDR-Teilnehmern zurückhaltend. Das Grußwort, gehalten durch die Vorsitzende der »AS/F«, Dr. Gumlich, Gertrud, enthielt keine politischen Bezugspunkte.

Inhalt und Verlauf des Jahrestreffens wurden durch gezielte Maßnahmen staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte dahingehend beeinflusst, den Differenzierungsprozess innerhalb der »AS« zugunsten realistischer Kräfte weiter zu vertiefen. Dadurch gelang es auch, den überwiegend kirchlichen Charakter des Treffens zu wahren. Das Auftreten der Leitungsmitglieder der »AS« in der DDR und kirchenleitender Kräfte trug wesentlich dazu bei, Versuche einzelner Teilnehmer, ökologische Probleme aufzuwerfen, zurückzuweisen und das Wirksamwerden einzelner politisch-negativer Kräfte zu verhindern.

Kennzeichnend für eine Reihe von Teilnehmern war ihr Desinteresse an theologischen Problemen und das Bestreben, sich vorwiegend mit Erlebnisberichten über die im Jahre 1984 durchgeführten Arbeitseinsätze zu befassen.

Zum Thema des Jahrestreffens wurden einleitend Vorträge durch Pfarrer i. R. Müller, Johannes/Westberlin und durch Bischof i. R. Schönherr, Albrecht/Berlin8 gehalten.

In beiden Vorträgen wurde Bezug genommen auf das sogenannte Stuttgarter Schuldbekenntnis.9 (Es handelt sich dabei um die Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 19. Oktober 1945 gegenüber Vertretern des ökumenischen Rates der Kirchen in Genf, in der aus historischer und philosophisch-theologischer Sicht eine Mitschuld der Kirche an der Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland und damit am Leid der Völker eingestanden wurde.)

Während der Vortrag von Pfarrer Müller aufgrund vieler allgemein gehaltener theologischer Aussagen bei den Teilnehmern Enttäuschung hervorrief, wurde der Vortrag von Bischof Schönherr, der sich u. a. kritisch mit der Verwirklichung des »Stuttgarter Schuldbekenntnisses« durch die Evangelischen Kirchen in der BRD auseinandersetzte, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Er führte aus, für Christen dürfe es keinen »unpolitischen Innerlichkeitsraum« geben. Sie sollten an verantwortungsbewussten Entscheidungen der Politiker teilnehmen. Die Kirche trage eine Mitschuld an der Wiederbewaffnung in Europa und der Welt, da sie ihr Schuldbekenntnis nach 1945 nicht konkretisiert habe und somit der Entwicklung von Antikommunismus und Antisowjetismus nichts entgegenzusetzen hatte.

Den Jahresbericht des Leitungskreises10 verlas der Leiter der »AS« in der DDR, Pfarrer Liedtke/Germendorf.11

Er dankte darin den Teilnehmern für ihre Mitarbeit bei der Vorbereitung und Durchführung von 35 Aufbaulagern (Arbeitseinsätzen) in der DDR sowie bei den beiden Gedenkveranstaltungen im Juni/Juli 1984 in Dresden, die anlässlich der Deportation und Ermordung von 600 000 Juden durch das faschistische Deutschland stattfanden.12 Im Zusammenhang mit der Durchführung von Arbeitseinsätzen in den Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen (erstmals 1984) sowie eines Arbeitseinsatzes im Kinderkrankenhaus in Warschau würdigte Pfarrer Liedtke die Unterstützung durch die zuständigen staatlichen Organe.

Er teilte weiter mit, die »AS« sei am 7.12.1984 Mitglied der Arbeitsgruppe des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zur Vorbereitung des 40. Jahrestages der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus geworden und werde sich 1985 aktiv mit der würdigen Vorbereitung dieses Ereignisses befassen.13 Dazu gehöre, in Gesprächen mit Mitgliedern der »AS« sowie mit anderen Christen die Erkenntnis zu festigen, dass »die Leiden nicht 1945, sondern 1933 begonnen« hätten und »die Hauptleiden und die Last bei der Befreiung die Sowjetunion getragen« habe.

Liedtke informierte darüber, dass die Leitung der »AS« in der DDR im November 1984 einen Brief an den Botschafter der UdSSR14 in der DDR gesandt habe. Darin habe sie die Befreiungstat der UdSSR gewürdigt und den Wunsch geäußert, 1985 ein Aufbaulager in der UdSSR durchführen zu können. Bisher läge zu diesem Brief noch keine Antwort vor. Er wertete dies dahingehend, dass die zuständigen Organe der UdSSR das Anliegen der »AS« sorgfältig prüfen würden.

Als inhaltliche Schwerpunkte der Arbeit der »AS« für das Jahr 1985 nannte er außerdem

  • den Einsatz für Abrüstung und Frieden als Ausdruck einer antifaschistischen Haltung der »AS« in der DDR;

  • den Einsatz für einen von Atomwaffen und Raketen freien deutschen Boden;15

  • den Einsatz für die Erhaltung der Umwelt sowie das Eintreten für eine Anti-Hunger-Koalition in der Welt.

Die bestehenden Kontakte der »AS« in der DDR zur »AS/F« wertete Pfarrer Liedtke als eine »Zusammenarbeit in Form einer kritischen Begleitung«. Bei Gesprächen mit dem Vorstand der »AS/F« im Dezember 1984 habe der Leitungskreis der »AS« sein Unverständnis über den Austritt der »AS/F« aus dem Koordinierungsausschuss der BRD-Friedensbewegung zum Ausdruck gebracht.16

(Der Geschäftsführer der »AS/F«, Brinkel, sah sich veranlasst, noch auf dem Jahrestreffen eine Erklärung abzugeben, in der er darauf verwies, seine Organisation würde wieder im Koordinierungsausschuss der BRD-Friedensbewegung mitarbeiten.)

Außerdem teilte Pfarrer Liedtke mit, die »Aktion Sühnezeichen« in der DDR und die »Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V.« der BRD planen in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Verlagsanstalt aus Anlass des 40. Jahrestages der Befreiung die gemeinsame Erarbeitung und Herausgabe eines Buches. Dieses Buch soll zunächst in der DDR erscheinen und danach als Lizenzausgabe in der BRD vertrieben werden.17

In der anschließenden Fragestunde zum Bericht des Leitungskreises und den darin enthaltenen Aufgabenstellungen für das Jahr 1985 wies Pfarrer Liedtke Forderungen einzelner Teilnehmer zurück, sich intensiver mit ökologischen Fragen zu befassen, indem er auf das Grundanliegen der Arbeit der »AS« verwies.

Am Abend des 29. Dezember 1984 fanden in 22 Gesprächsgruppen Diskussionen in kirchlichen Objekten und Privatquartieren statt. Nach vorliegenden internen Hinweisen wurde der dabei von dem Leitungskreis der »AS« angestrebte Gedankenaustausch über die Vorträge und über den Bericht sowie die darin enthaltenen Aufgabenstellungen für das Jahr 1985 nicht erreicht. Vorschläge für die künftige Arbeit wurden nicht erarbeitet. Die stattgefundenen Gespräche beinhalteten im Wesentlichen nur Erlebnisberichte über durchgeführte Arbeitseinsätze.

Der als Gast am Jahrestreffen teilgenommene Bischof Dr. Demke/Magdeburg18 gab am 30.12.1984 einen »Bericht zur kirchlichen Lage«. Darin konstatierte er u. a. zunehmende Sorgen der Evangelischen Kirchen in der DDR bei der Besetzung kirchlicher Stellen, ein wachsendes Misstrauen der Gemeinden gegenüber repräsentativen kirchlichen Vertretungen und wachsende Uneinigkeit bei der Lösung innerkirchlicher Sachfragen. Außerdem verwies er auf den »ungewollten Zustrom« von solchen Kindern und Jugendlichen, die nach der erfolgten »Öffnung der Kirchen für Nichtchristen« Erwartungshaltungen gegenüber den Kirchen bezüglich der Beschäftigung mit der Friedens- und Ökologieproblematik, mit Fragen der Geschichte und der Homosexualität einnehmen würden, denen man nicht immer entsprechen könne. Viele dieser Jugendlichen kämen aus Neugier und beabsichtigten nicht, eine feste Bindung mit der Kirche einzugehen.19

Nach Auffassung Dr. Demkes erfordere diese Entwicklung den Ausbau der horizontalen Strukturen der Kirchen in Form des Ausbaus und der Erhöhung der Verantwortung kleinerer zusammengehöriger Gemeinschaften wie der Bruder- und Schwesternschaften. Auch müsse man die Bereitschaft entwickeln, die kirchliche Lehre durch solche Personen weitergeben zu lassen, die selbst nicht bereit sind, diese Lehre anzunehmen.

Die Politik der DDR in Kirchenfragen charakterisierte er als »langjährig gleichbleibende Grundposition«, die lediglich von der internationalen Lage beeinflusst würde. Wichtigstes Prinzip sei dabei die Trennung Staat – Kirche. Die Kirche solle sich überlegen, voreilige Positionen vor allem in den Bereichen Friedensfragen und Umweltschutz zu unterstützen. Es sei dabei zu beachten, dass bei Gesprächen mit Vertretern des Staates von ihnen zurzeit noch keine endgültigen Standpunkte erwartet werden könnten, da die Entscheidungsfindung des Staates vor allem auf dem Gebiet des Umweltschutzes noch nicht abgeschlossen sei.

Bischof Demke forderte die Teilnehmer auf, nicht nach neuen Erkenntnissen in der Friedenspolitik zu suchen, sondern bisher Erkanntes besser zu verwirklichen. Die kirchliche Friedensarbeit sei rückläufig, spektakuläre Aktionen würden jedoch diese Situation nicht verändern.

Die vom Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Erich Honecker,20 auf der 9. Tagung des ZK der SED21 getroffene Feststellung, »gegenwärtig gibt es in Europa mehr Raketen, aber weniger Sicherheit«,22 müssten jeden Christen immer wieder veranlassen, die Sinnlosigkeit neuer Aufrüstungen zu erkennen. Diskussionen über solche Fragen sollten nicht auf die DDR begrenzt bleiben, sondern über Ländergrenzen hinweg konsequent fortgesetzt werden.

Auf Fragen der Umwelterhaltung eingehend verwies Bischof Demke auf zunehmende Auseinandersetzungen mit dieser Problematik im kirchlichen Bereich. In diesem Zusammenhang betonte er, die Kirche müsse zuerst bei sich selbst anfangen, reale von unrealen Wegen der Sicherung der Umwelt zu erkennen und zu unterscheiden. Es sei ein Grundfehler vieler Theologen, Probleme aus dem Zusammenhang zu reißen. Dies führe oft zu Fehleinschätzungen. In Umweltfragen müsse man auch die nötige Sachkenntnis erweitern und das Machbare erkennen.

Am Schluss seiner Ausführungen äußerte sich Bischof Demke kritisch zur neuen »Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten« (OWVO) vom 22. März 1984. Nach seiner Meinung lasse insbesondere der § 4 der OWVO23 (Störung des sozialistischen Zusammenlebens) eine hohe Interpretationsbreite zu. Dies führe zu einer Erweiterung der Ermessenspolitik des Staates bei entsprechenden Entscheidungen und habe eine Zunahme von Misstrauen und Unsicherheit der Bevölkerung zur Folge.

Am letzten Tag des Jahrestreffens wurden elf Teilnehmer in geheimer Abstimmung für die Dauer von zwei Jahren in den neuen Leitungskreis der »AS« in der DDR gewählt.

Mit einem »Abend der Begegnung« im Gemeindehaus der Immanuelkirche, Berlin-Prenzlauer Berg, der dem persönlichen Kennenlernen der Teilnehmer diente, wurde das Jahrestreffen der »AS« in der DDR beendet.

Während des gesamten Verlaufs der Veranstaltung wurden keine politisch-negativen Aktivitäten bekannt.

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

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    14. Januar 1985
    Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das Treffen der Außenminister der UdSSR und der USA in Genf [O/136]

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    14. Januar 1985
    Information Nr. 17/85 über die im Ergebnis der Untersuchung eines Jagdunfalls getroffenen Feststellungen zu begünstigenden Bedingungen und Umständen