Meinungsäußerungen von Schriftstellern zur Kulturpolitik
14. März 1985
Information Nr. 50/85 über Meinungsäußerungen von Schriftstellern und weiteren im kulturellen Bereich tätigen Personen zu Fragen der Kulturpolitik der DDR
Nach vorliegenden streng internen Hinweisen werden in letzter Zeit unter Schriftstellern, weiteren Kulturschaffenden und im kulturellen Bereich tätigen Personen verstärkt Diskussionen zur Kulturpolitik und in diesem Zusammenhang zur Entwicklung der DDR-Literatur geführt.
Als Anlässe für derartige Meinungsäußerungen werden insbesondere genannt:
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Aussagen im Bericht des Politbüros an die 9. Tagung des ZK der SED1 zur weiteren Entwicklung von Kultur und Kunst,
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in jüngster Zeit erfolgte Ablehnungen von Veröffentlichungen bzw. erforderlich gewordene Änderungen einiger literarischer Arbeiten von namhaften und als progressiv bekannten Autoren der DDR-Literatur,2
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ein angeblich schwindendes Ansehen und Autoritätsverlust des Schriftstellerverbandes der DDR, bedingt durch Inaktivität der Leitung des Verbandes,
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sowie das Ersuchen des Genossen Hermann Kant3 um Entbindung von der Arbeit, die mit der Funktion des Präsidenten des Schriftstellerverbandes der DDR verbunden ist.4
In Meinungsäußerungen progressiver und namhafter Schriftsteller und anderer ihnen nahestehender Personen sind folgende Tendenzen zu erkennen:
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Unzufriedenheit über die gegenwärtig praktizierte Linie der Durchsetzung der Kulturpolitik der Partei, verbunden mit Hinweisen auf angeblich fehlende zentrale Orientierungen, besonders unter den Bedingungen der Verschärfung der internationalen Klassenauseinandersetzung, sowie ihrer Auffassung nach fehlende politisch-ideologische Arbeit, besonders in den Künstlerverbänden.
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Unverständnis über angeblich vorhandene Anzeichen des Zurückweichens vor Auseinandersetzungen mit politisch-negativen Auffassungen und Darstellungen in schriftstellerischen Arbeiten.
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Unsicherheit hinsichtlich der Arbeit an Gegenwartsstoffen sowie Unzufriedenheit über fehlende Impulse seitens des Schriftstellerverbandes der DDR.
Als Ursache wird eine angeblich immer sichtbarer werdende konzeptionslose Leitung des Vorstandes genannt.
Als Folgeerscheinungen derartiger Tendenzen werden weiter genannt:
Resignation progressiver Kräfte, die sich insbesondere widerspiegelt in Erscheinungen der Zurückhaltung und des Desinteresses, sich gesellschaftlich zu engagieren und ideologische Auseinandersetzungen zu führen.
Bestrebungen, auf politisch nicht anfechtbare Stoffe und zeitlose Inhalte auszuweichen, sogenannte Problemliteratur nur für die Schublade zu produzieren, teilweise unter Hinweis auf Nichtveröffentlichung oder »administrativ« verfügte Änderungen von Manuskripten namhafter oder als progressiv bekannter Autoren sowie erfolgte Zurückweisungen von Manuskripten durch Verantwortliche des Fernsehens der DDR.
Meinungsäußerungen zu vorgenannten Problemen würde es lediglich in kleineren Gesprächsrunden oder »unter vier Augen« geben. »Offiziell«, z. B. in Vorstandssitzungen des Schriftstellerverbandes der DDR oder in Beratungen der Bezirksverbände, erfolgten dazu keinerlei Bemerkungen.
Namhafte progressive Schriftsteller, u. a. Mitglieder des Vorstandes des Schriftstellerverbandes der DDR, Mitglieder des Bezirksverbandes Berlin, einige führende Literaturwissenschaftler und Dokumentaristen, darunter mehrere Mitglieder der SED, äußerten unabhängig voneinander in vertraulichen Gesprächen, die 9. Tagung des ZK der SED habe »nur unbedeutende Fragen« der kulturpolitischen Situation in der DDR »angerissen«; die Passage über Fragen der Kultur stelle lediglich eine Abrechnung einzelner kulturpolitischer Aufgabenstellungen dar. Sie brachten zum Ausdruck, im kulturpolitischen Bereich sei gegenwärtig »keine klare parteiliche Konzeption erkennbar«; die 9. Tagung habe an dieser Feststellung nichts geändert und keine Aufgaben gestellt. Seit Langem sei »eine Art Kulturkonferenz oder Ähnliches« überfällig.
Aus individuellen Gesprächen sei erkennbar, dass unter vorgenannten Personenkreisen eine pessimistische Stimmung hinsichtlich der gegenwärtigen Situation auf kulturpolitischem Gebiet besteht. Aus der nach ihrer Ansicht »unzureichenden« Einschätzung zu Fragen der Kultur auf der 9. Tagung und der »bisher völlig fehlenden Aufgabenstellung« auf diesem Gebiet in Vorbereitung des XI. Parteitages der SED – im Gegensatz zu allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in der DDR – leiten sie ab, dass eine gewisse »kulturpolitische Konzeptionslosigkeit« bestehe.
Vom bevorstehenden XI. Parteitag der SED5 würden viele Schriftsteller eine klare, für alle verständliche kulturpolitische Orientierung erwarten, die auch solchen Künstlern, die nicht ständig Gelegenheit hätten, Funktionäre zu konsultieren, »besser hilft, sich zurechtzufinden«. Es würde in den Materialien des XI. Parteitages eine »einfachere, überschaubarere kulturpolitische Linie, die nicht über die Köpfe hinweggeht, erwartet, ohne von einem Extrem in ein anderes zu verfallen«.
Hervorgehoben wurde, Schriftsteller und Künstler würden z. T. davon ausgehen, dass ihnen eventuell vom Ministerium für Kultur oder von anderen verantwortlichen Stellen rechtzeitig und unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten erläutert werde, welche Arbeiten oder Kunstwerke mit welchen inhaltlichen Themen von ihnen erwartet werden; die Auswahl der Themen sollte nicht allein den Künstlern überlassen werden, denn was aus seiner subjektiven Sicht als interessant erscheine, müsse nicht für die Gesellschaft bedeutsam sein.
Einige auch international anerkannte ältere Autoren, die die Entwicklung der DDR von Beginn an persönlich miterlebt und entsprechend ihren Möglichkeiten mit gestaltet haben, äußerten in individuellen Gesprächen, die zahlreichen außenpolitischen Aktivitäten führender Funktionäre seien hoch einzuschätzen, aber ihrer Meinung nach würden sie dadurch von innenpolitischen Problemen, wie z. B. der Kulturpolitik, »abgelenkt«. Seit dem 6. Plenum des ZK der SED im Juli 19726 habe es keine umfassenden Orientierungen mehr zur Kulturpolitik gegeben und Gespräche mit Künstlern würden durch Genossen der Parteiführung nur in einem so engen Rahmen geführt, dass sie an Ausstrahlung für die Masse der Künstler der DDR verlieren würden. Es habe in letzter Zeit seitens des Vorstandes des Schriftstellerverbandes der DDR Bestrebungen gegeben, verantwortliche Genossen der Parteiführung zu gewinnen, vor diesem Personenkreis grundsätzliche Ausführungen zu machen, oder an Vorstandssitzungen teilzunehmen, damit die Probleme der Schriftsteller besser verdeutlicht werden könnten; diese Bemühungen seien jedoch gescheitert. Außerdem gäbe es in letzter Zeit Beispiele, wo Ablehnungen von literarischen Stoffen »von oben« erfolgt seien, ohne dass gleichzeitig »ein notwendig fördernder Einfluss« auf den Autor ausgeübt worden sei und klärende Gespräche mit ihm stattgefunden hätten.
In einer Reihe Gespräche von Kulturschaffenden wurde im Zusammenhang mit der Ablehnung bestimmter Arbeiten besonders auf die »Kaltstellung« von Kerndl7 und Sakowski,8 auf »Schwierigkeiten«, die Panitz,9 Flegel,10 Neutsch,11 Weber12 und Strahl13 bekommen hätten, sowie auf die »Entlastung mit Hintergründen« von Siegfried Wagner14 (ehemaliger Stellvertreter des Ministers für Kultur) verwiesen.
Betont wird, bei diesen und weiteren Personen handele es sich um progressive und »gestandene« Schriftsteller bzw. Funktionäre und es wird wiederholt die Frage der Ursachen »ihres Versagens« und ihrer jetzigen Haltung gestellt.
Mehrfach sei in Meinungsäußerungen auf einen »immer deutlicher werdenden Widerspruch« aufmerksam gemacht worden, wonach sich bestimmte Schriftsteller, die ihre Arbeiten überwiegend in der BRD veröffentlichen, darin abfällig über die DDR äußern könnten, ohne deswegen diszipliniert zu werden, andere progressive Autoren jedoch – darunter ZK-Mitglieder – »in Ungnade fallen würden«, wenn sie sich in ihren Arbeiten »einmal im Ton vergreifen«.
Man erwarte, dass zuständige Stellen Maßnahmen ergreifen, um in Zukunft weitestgehendst [sic!] zu verhindern, dass Autoren, die sich über einen längeren Zeitraum in vielen Klassenauseinandersetzungen bewährt hätten, plötzlich Schwierigkeiten bekommen, wenn ihre Arbeiten politisch nicht vertretbare Aussagen enthalten. Wichtig wäre es, auch mit solchen bewährten Genossen und Künstlern ständig im Kontakt und im politischen Gespräch zu bleiben, um sie vor derartigen Situationen zu bewahren. Es werde zu wenig bedacht, dass Schriftsteller und Künstler meist allein, ohne Kollektiv arbeiten und ihr Umfeld zur politisch-ideologischen Auseinandersetzung und Bildung nicht ausreiche.
Der ideologisch stark zersetzende Einfluss des Gegners werde indirekt durch den Umstand begünstigt, dass den Schriftstellern von kompetenter Seite zu wenig Antwort auf ihre Fragen gegeben werde. Dadurch sei der Raum, in welchem »Halbwahrheiten« und gegnerische Positionen verbreitet würden, zu groß.
Betont werde wiederholt, den Schriftstellern müsse Gelegenheit geboten werden, im verantwortlichen Forum über politische und auch »unbequeme« Fragen zu diskutieren und Lösungen anzubieten, wie ein Schriftsteller unseren Menschen Zuversicht und Optimismus vermitteln und in ihnen die Bereitschaft wecken könne, sich stärker für den Sozialismus und für den Frieden zu engagieren.
Prinzipiell wären viele Schriftsteller dazu bereit, hätten aber zu viele Unklarheiten hinsichtlich des Herangehens an derartige Fragen.
Nach weiter vorliegenden Meinungsäußerungen offenbare sich die jetzige Periode der DDR-Literatur und der DDR-Dramatik als eine »Periode der Unterdrückung guter Stoffe und Themata«. Die Literatur und Dramatik der DDR anlässlich des 35. Jahrestages der DDR habe ein »Armutszeugnis« abgelegt, da keine geeigneten Werke herausgekommen seien. Ein Teil der Schriftsteller arbeite »auf zwei Ebenen«; sie würden leichte und problemlose Literatur produzieren, um Geld zu verdienen; anspruchsvollere Literatur schreibe man »für die Schublade«, um sie später und unter günstigeren Bedingungen zu veröffentlichen.
Aus dem PEN-Zentrum der DDR wurden intern Meinungsäußerungen bekannt, wonach unter Schriftstellern Vorbehalte zur Veröffentlichung der Bücher »Briefwechsel Zweig – Feuchtwanger«15 und »Dialog mit meinem Urenkel«16 von Jürgen Kuczynski17 geäußert würden und bemerkt werde, daraus könne eine gewisse Tendenz der Neubelebung opportunistischer, antisowjetischer Haltungen erkannt werden, zumal vielen Lesern historische Kenntnisse zur richtigen parteilichen Bewertung fehlten. Der »Briefwechsel Zweig – Feuchtwanger« hätte – nach Meinungen aus dem PEN-Zentrum – mit einem Vorwort erscheinen müssen, um im Buch möglicherweise erkennbare antisowjetische Tendenzen abzubauen.
Auch die Veröffentlichung dieser Bücher werfe zahlreiche Fragen auf zur gegenwärtigen kulturpolitischen Linie und ihrer konkreten Umsetzung.
Hinweisen zufolge stellten Personen mit negativer bzw. unklarer politischer Haltung die Frage, inwieweit unter dem Gesichtspunkt der Veröffentlichung dieser Bücher die Änderung von Manuskripten anderer Schriftsteller erforderlich sei. So vertreten sie die Ansicht, der von Christa Wolf18 geschriebene Roman »Kassandra«19 sei anerkennenswert; sie seien gegen die Praktik, dass man Christa Wolf wegen einer Änderung von 60 Zeilen in diesem Roman »unter Druck gesetzt« habe.
In diesem Zusammenhang wurde wiederholt die Auffassung vertreten, derzeit würde die Literatur in der DDR »einfach zu Tode gemacht«; mitunter entstehe der Eindruck, dass leitende Institutionen und verantwortliche Funktionäre im Bereich Kultur keine einheitlichen Meinungen vertreten würden; die Literatur in der DDR würde zwischen »uneinheitlichen Auffassungen« Verantwortlicher zu vorgelegten Arbeiten »zerrieben«.
In individuellen Gesprächen wird darauf hingewiesen, der »Mangel an guter Literatur« – insbesondere Gegenwartsliteratur – mache sich in der DDR auch zunehmend an fehlenden Stücken für Theater und Fernsehen bemerkbar.
Progressive Schriftsteller der älteren Generation, die z. T. Mitglieder der SED sind, argumentierten wie folgt:
Bei den Autoren und in der DDR-Literatur »herrsche eine große Kälte«; den Schriftstellern fehle die Initiative zum Schreiben aktueller Stoffe. Es würden viele Probleme »im Raum stehen«, ohne dass darüber gesprochen werde. Es existiere eine »gläserne Wand« zwischen der Kunst und der Kulturpolitik der Partei. Die Kunst sei »realitätsorientiert und realitätsbesessen«, während sich die Kulturpolitik »im Fahrwasser der allgemeinen Ideologie« befände. In der Literatur solle nicht die Gesellschaftsordnung oder der Staat kritisiert werden, sondern es würden einzelne Menschen, die Fehler machen, dargestellt; Kritik habe noch nie geschadet. Weiterhin wurde die Frage gestellt, warum tatsächliche Probleme unserer Zeit in der DDR-Literatur nicht dargestellt werden dürften; in der Sowjetunion würden diese Fragen offener behandelt. (Dabei wurden u. a. Passagen aus Reden des Genossen Andropow20 zitiert, in denen er zu Fragen der Kulturpolitik Stellung genommen hatte, und betont, darin würden real und kritisch Probleme angesprochen und gleichzeitig Wege des weiteren Voranschreitens aufgezeigt.)
Mehrfach wurde von namhaften Schriftstellern, Funktionären des Schriftstellerverbandes und Mitgliedern der Akademie der Künste auf eine »Studie« verwiesen, die von der Akademie der Wissenschaften der DDR unter Mitwirkung der Literaturwissenschaftler Dieter Schlenstedt21 und Hans Kaufmann22 gefertigt und von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED gebilligt worden sein soll. Diese »Studie« wird als »sensationelle kulturpolitische Orientierung« bezeichnet. In ihr werde u. a. angeblich vordergründig auf künstlerische Aspekte bei der Schaffung von Literatur, nicht aber auf den parteilichen und klassenverbundenen Charakter orientiert; elitäre Kunstwerke, die auch eine klare Haltung zur Sowjetunion vermissen ließen, würden in den Rang der »eigentlichen DDR-Literatur« erhoben. Sollte sich diese »Linie« durchsetzen – so wird weiter argumentiert – würden politisch-ideologische Auseinandersetzungen, z. B. mit Christa Wolf und Elke Erb,23 nicht mehr stattfinden. Angeblich würden in dieser »Studie« solche Autoren wie Christa Wolf und Christoph Hein24 als die »eigentlichen Repräsentanten der DDR-Literatur« gefeiert. Falls dies den Tatsachen entspräche, wachse die »Unsicherheit hinsichtlich der gegenwärtigen Linie« noch weiter an. Gleichzeitig werde darauf verwiesen, »unter der Hand schwirre das Material überall herum und gelte als Geheimtipp«. Mehrfach wurde betont, gegen das Material müsse man auftreten, es sei »eine politische Schweinerei«, die man nicht auf den ersten Blick durchschaue; beim Lesen des Materials stelle sich ein »deutliches Unbehagen« ein, da es »unter den Händen wegschlüpfe«. Argumentiert wird weiter, in der »Studie« erscheine der Sozialismus nur noch als kritikwürdige Gesellschaft, werde eine Gleichschaltung von Sozialismus und Imperialismus vorgenommen, erfolge eine Gleichstellung der Verhältnisse in der DDR und in der BRD im Namen einer »Kulturgesellschaft« und es werde ein »Gegensatz von Kunst und Macht« in unserem Staat propagiert.
In mehreren Gesprächen sei die Frage aufgeworfen worden, welche Stellung leitende Parteiorgane zu dieser »Studie« einnehmen würden, da es sich bei den Verfassern eigentlich um erfahrene und anerkannte Literaturexperten und Mitglieder der SED handele. (Nach vorliegenden Hinweisen handelt es sich bei dieser »Studie« um ein noch nicht bestätigtes Diskussionsmaterial, zu dessen Inhalt unter der Leitung der Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED Auseinandersetzungen geführt werden mit dem Ziel zu entscheiden, ob und in welcher Form Veröffentlichungen erfolgen. In diesem Zusammenhang wird empfohlen, über diese »Studie« auch in zuständigen Gremien auf dem Gebiet Kultur – Abteilung Kultur beim ZK der SED, Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR – Auseinandersetzungen zu führen.)
In weiteren Meinungsäußerungen sei wiederholt auf Zusammenhänge zwischen Mängeln bei der praktischen Umsetzung der kulturpolitischen Linie der Partei, der ungenügenden politisch-ideologischen Arbeit der Leitung des Schriftstellerverbandes der DDR und des Ersuchens des Genossen Hermann Kant um Entbindung von der Arbeit, die mit der Funktion des Präsidenten des Schriftstellerverbandes der DDR verbunden ist, verwiesen worden. Vom Verband würden keine politisch-ideologischen Aktivitäten ausgehen und zu tatsächlichen Problemen herrsche »Schweigen«. Die Leitung des Schriftstellerverbandes der DDR komme ihrer Verantwortung zur Anleitung und Lenkung der Bezirksverbände in immer geringerem Maße nach. Schriftsteller in Bezirken und Kreisen kämen sich z. T. »alleingelassen« vor. Eine Reihe Schriftsteller und im kulturellen Bereich tätige Personen äußerte, das gegenwärtige Geschehen um die Funktion des Präsidenten des Schriftstellerverbandes stelle sich für sie als undurchschaubar und unverständlich dar und es bestehe keine Übersicht, wer eigentlich diese Funktion wahrnehme – Hermann Kant oder Gerhardt Holtz-Baumert.25 In diesem Zusammenhang wurde auch darauf verwiesen, es sei offensichtlich, dass Hermann Kant nicht aus gesundheitlichen Gründen allein diesen Schritt getan habe. Wahrscheinlich befände er sich zum Teil auch im Widerspruch zu einigen kulturpolitischen Entscheidungen. In letzter Zeit habe er sich bei den verschiedensten Gelegenheiten bei bester Gesundheit gezeigt. Kant habe gegenüber anderen Personen geäußert, die Partei würde ihm »nicht genügend Spielraum« für die Ausübung dieser Funktion einräumen; wenn er nicht mehr mit der Kulturpolitik der DDR zu tun habe, ginge es ihm wesentlich besser.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 50/85
Einschätzung zu der »Studie«: »Prosa der DDR in den siebziger Jahren« – Prosa-Skizze –
Vor ca. drei Jahren wurde von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Institut für marxistische Kultur- und Kunstwissenschaften, an verschiedene Institute der Auftrag erteilt, jeweils ein Gebiet der Literatur einzuschätzen. Ziel sollte sein, den Stand zu bilanzieren und jene ideologischen und ästhetischen Fragen zu benennen, die in der Vorbereitung des XI. Parteitages den Kern der Diskussion bestimmen sollen. Die Prosa der DDR zu untersuchen, wurde dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR aufgetragen.
Geleitet wurde die Arbeit von Prof Dr. Hans Kaufmann und Dr. Ingrid Hähnel. Die Endfassung wurde von Ingrid Hähnel, Hans Kaufmann und Dieter Schlenstedt vorgenommen.
Die »Studie« lässt folgende politische Zielrichtungen erkennen:
Der Sozialismus erscheint als eine nur noch kritikwürdige, nicht mehr bejahenswerte Gesellschaft. Mit dem Begriff: »Sozialismusinterne Auseinandersetzung« wird von Anfang an gearbeitet und gerade diese Haltung als die wichtigste Errungenschaft der neuesten Literatur gewertet. In der »Studie« ist zu lesen: »Sozialismusinterne Auseinandersetzung erreicht hier einen Punkt, an dem Literatur zur ›Peitsche der Gesellschaft‹ wird«.
Alles, was sich kritisch zum Sozialismus verhält, wird bejaht, alles andere wird deklassiert. In der »Studie« ist vom »Abbau von Illusionen« – in Bezug auf den Sozialismus – die Rede.
Autoren, die sozialismusfeindliche Haltungen einer Kritik unterziehen, werden diffamiert.
So wird behauptet: »In Harry Thürks ›Der Gaukler‹ gerät die Hauptfigur durch die Fixierung auf das ›rein‹ Negative zum Klischee« (es handelt sich um eine literarische Polemik gegen den aus der Sowjetunion ausgewiesenen Solschenizyn).26 Hervorgehoben wird hingegen die Haltung von Erich Loest (der die Republik verlassen hat und in der BRD gegen die DDR arbeitet) und der schon vorher, also noch während seines Aufenthaltes in der DDR mit seinem Buch »Es geht seinen Gang«27 Aufsehen erregte, weil es konzeptionell eine gegen die DDR gerichtete Position beinhaltet.
Gleichsetzung des Sozialismus und des Imperialismus (Hinweise auf gleiche Formen der Auseinandersetzung in beiden Gesellschaftsordnungen).
So wird behauptet: »Die Kritik richtet sich gegen Verhaltensweisen einzelner Vertreter der Macht; gefragt wird nach dem Verhältnis von menschlichem und politischem Verhalten. Volker Braun fragt in seiner ›Unvollendeten Geschichte‹28 … nach der ›menschlichen Dimension‹ politischer Macht, d. h. nach den Möglichkeiten des Einzelnen, politische Strukturen und Machtmechanismen zu durchschauen und auch die Möglichkeit, sich gegen Machtmissbrauch zu wehren.«
Es geht den Verfassern also nicht um konkrete Macht, sondern um Macht schlechthin.
Wichtige Themen gegenwärtiger Auseinandersetzung mit der Realität werden so allgemein gefasst, dass sie überall gültig sein können.
»Angesichts der wachsenden Bedrohung des Weltfriedens, der verheerenden Folgen des Missbrauchs wissenschaftlicher Entdeckungen und Erkenntnisse (atomare Gefahr, Umweltzerstörung) rücken nunmehr globale Probleme der gegenwärtigen und künftigen Entwicklung der Menschheit in das Zentrum poetischer Verständigung.«
Die Begriffe Klasse und Klassenkampf, Imperialismus und Gefährdung der Menschheit durch den Imperialismus kommen im ganzen Material nicht vor; alles wird eingeebnet.
Eine den Sozialismus bejahende Haltung wird von vornherein als unsinnig erklärt.
Progressive Schriftsteller und ihre Arbeiten, die sich als echte Verfechter des Sozialismus vielfältig bewährt haben, wie z. B. Günter Görlich, Erik Neutsch, Dieter Noll, Harry Thürk, Horst Bastian, werden in einer unverschämten Art und Weise abgewertet.
Es wird behauptet, dies seien Schriftsteller, die nicht Literatur, sondern falsche Propaganda betreiben würden.
Besonders bemerkenswert ist die Diffamierung der den Sozialismus bejahenden Haltung als eine didaktische, also als eine nicht kritische Haltung. Die Darstellung der Lösung von Widersprüchen wird von den Verfassern der »Studie« verurteilt.
Demgegenüber wird die Darstellung kritikwürdiger Erscheinungen im Sozialismus als »produktive Funktion der Prosaliteratur« bezeichnet.
In der »Studie« wird auf »existentielle Nöte« orientiert und Pessimismus verbreitet. Die Ausübung der Warnfunktion von Literatur bestehe im »Nichtverschweigen von Gefühlen der Angst und Lähmung, die angesichts der sich verschärfenden Weltlage in das allgemeine Bewusstsein und in die allgemeine Lebenshaltung dringen. Damit nehmen diese Werke die Chance der Literatur wahr, Empfindungen zur Sprache zu bringen, über die es kaum öffentliche Verständigung gibt, deren Verdrängung der Entfaltung von mehr Verantwortungsbewusstsein nicht unbedingt förderlich ist.«
Unterschwellig wird in der »Studie« eine Gleichschaltung der Verhältnisse in der DDR und in der BRD im Namen einer »Kulturgesellschaft« vorgenommen. Ohne Wertung eher zustimmend wird darauf hingewiesen, dass »Prosawerke von in der DDR lebenden Autoren zuerst in ungekürzter Form bzw. ausschließlich in der BRD erscheinen« (als jüngstes Beispiel wird Christa Wolfs »Kassandra« angeführt).
Weiter heißt es: »Einige Autoren (Christa Wolf u. a.) sprechen davon, dass Annäherungen zwischen Lesern aus der DDR und der BRD in der Rezeptionsweise von DDR-Literatur sichtbar werden und vom Autor zunehmend einkalkuliert werden müssen.«
An anderer Stelle wird wie selbstverständlich vom Inhalt der Erstwerke jener »DDR-Autoren« gesprochen, die nicht in der DDR, sondern in der BRD erscheinen.
Aussagen gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung erfolgen durchgängig unterschwellig, indem die Verfasser vorwiegend mit der Methode der Ausnutzung literarischer Aussagen arbeiten.
Um politisch indifferente und negative Aussagen zu verschleiern, wird mit literaturwissenschaftlichen Termini und Theorien gearbeitet.
Autoren mit politisch indifferenten und negativen Grundhaltungen und deren Arbeiten werden in den Vordergrund gerückt und aufgewertet. So werden Christa Wolf, Franz Fühmann, Erich Loest, Karl-Heinz Jakobs, Volker Braun, Christoph Hein als Repräsentanten von neuen Tendenzen in der DDR-Literatur hervorgehoben.
Durchgängig ist die Tendenz zu verzeichnen, die Funktion der Literatur auf die Verstärkung des »kritischen Elements« gegenüber dem Sozialismus auszurichten.