Reaktion der Bevölkerung auf aktuelle Entwicklungen (1)
8. August 1985
Hinweise über einige aktuelle Gesichtspunkte der Reaktion der Bevölkerung der DDR [O/147]
Hinweisen aus allen Bezirken, einschließlich der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge ist unter breiten Teilen der Bevölkerung ein gewachsenes Interesse an den Reden des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow,1 festzustellen. Das bezieht sich insbesondere auf seine Äußerungen zu innenpolitischen Problemen, wie beispielsweise auf der Beratung zu Fragen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in Moskau2 sowie anlässlich seiner Besuche in verschiedenen Unionsrepubliken der UdSSR.
In der Mehrzahl dazu bekannt gewordener Meinungsäußerungen werden vor allem die seit der Wahl des Genossen Gorbatschow zum Generalsekretär des ZK der KPdSU verstärkt sichtbar gewordenen Anstrengungen der Partei- und Staatsführung der UdSSR gewürdigt, eine schöpferische und zugleich kritischere Atmosphäre zur Durchsetzung der Parteibeschlüsse auf höchster Ebene zu schaffen.
Insbesondere politisch engagierte Werktätige aus Schwerpunktbereichen der Volkswirtschaft der DDR, darunter Leitungskader, aber auch Personen aus staatlichen Organen und Einrichtungen, werten die Reden als bedeutungsvoll, da grundlegende Probleme der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung der UdSSR ihrer Auffassung nach offen angesprochen werden und gleichzeitig eine prinzipielle Auseinandersetzung mit noch vorhandenen Mängeln erfolge. Dieses Vorgehen, so wird argumentiert, sei Ausdruck der Anwendung des Leninschen Arbeitsstils in der Parteiarbeit. Genosse Gorbatschow spreche neuralgische Punkte an und zeige konstruktiv sowie vorwärtsweisend Lösungswege für die beschleunigte Intensivierung der Produktion in allen volkswirtschaftlichen Bereichen auf.
Charakteristisch dafür sind folgende Argumente:
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Die Partei- und Staatsführung der UdSSR verstehe es, alle Probleme offen und kritisch anzusprechen.
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Eine solche Vorgehensweise sei zu begrüßen, denn nur so könnten die gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Entwicklung hemmende Faktoren überwunden werden.
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Genosse Gorbatschow habe neue Maßstäbe gesetzt und »frischen Wind« in die Parteiarbeit gebracht.
Beachtenswert erscheint, dass im Zusammenhang mit der weiteren Auswertung der 10. Tagung des ZK der SED3 häufig direkte Vergleiche hinsichtlich der Beurteilung/Bewertung der Entwicklung in der UdSSR und der DDR, vorwiegend im Bereich der Volkswirtschaft, angestellt werden.
Arbeiter, Angestellte und Angehörige der Intelligenz aus allen Bezirken der DDR äußerten sich wiederholt unter Hinweis auf die konkrete Lage in ihrem eigenen Tätigkeitsbereich dahingehend, die vom Genossen Gorbatschow gezeigte Konsequenz bei der Aufdeckung und Beseitigung von Mängeln/Missständen würde auch in der DDR notwendig sein, zumal sich die Probleme in der UdSSR und DDR nach ihrer Auffassung einander ähnelten.
Das konsequente Vorgehen der Partei- und Staatsführung in der UdSSR gegenüber leitenden Kadern im Staatsapparat und in der Wirtschaft, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind, wird begrüßt (nur in Einzelfällen werden Bedenken über ein derartiges Vergehen geäußert), verbunden mit dem Hinweis, auch in der DDR müsste gegenüber Kadern in staats- und wirtschaftsleitenden Organen bei nachgewiesenen Pflichtverletzungen entschiedener durchgegriffen werden.
Besonders langjährig tätige Facharbeiter kritisieren bei aller Würdigung der erzielten Leistungen, dass vor allem in Betrieben auftretende Probleme und Mängel verharmlost oder verschwiegen und stattdessen »schöngefärbte« Berichte an übergeordnete Leitungsorgane weitergeleitet und sich Leiter inkonsequent z. B. gegenüber Erscheinungen mangelnder Arbeitsdisziplin verhalten würden. In diesem Zusammenhang betonen sie, eine kritischere Bewertung des erreichten Standes und prinzipielleres Auftreten von Leitungskadern aller Ebenen gegenüber subjektiv bedingten Mängeln hätte ein stärkeres Engagement der Werktätigen zur Überwindung von Hemmnissen zur Folge.
Es wurde wiederholt – besonders in individuellen Gesprächen – die Erwartung ausgesprochen, dass künftig auf Tagungen des ZK der SED anstehende Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung sowie dabei erkannte Schwachstellen konkreter, für alle Bürger deutlicher erkennbar bzw. verständlicher dargelegt werden.
So behaupteten z. B. Absolventen der Agrar-Ingenieur-Schule Neubrandenburg, die Dokumente der SED würden nur deshalb oberflächlich studiert, da sie zu schwer zu durchdringen seien und sich oft in den Formulierungen glichen; deshalb ließen sich kaum konkrete Schlussfolgerungen ableiten. Durch angeblich zu stark verallgemeinerte Aussagen würden die Dokumente für den Einzelnen an Wert verlieren.
Unmittelbar verbunden mit der weiteren Auswertung der 10. Tagung des ZK der SED werden in unterschiedlichem Umfang unter allen Bevölkerungskreisen zunehmend Erwartungshaltungen geäußert und wird spekuliert über mögliche Beschlüsse des XI. Parteitages,4 besonders auf sozialpolitischem Gebiet.
Schwerpunkte bilden dabei Maßnahmen bezüglich
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der Herabsetzung des Rentenalters,
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Lohnerhöhungen für Werktätige mit relativ geringem Verdienst,
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der Verkürzung der Wochenarbeitszeit.
Erwartet wird eine generelle Herabsetzung des Rentenalters für alle Werktätigen (diskutiert werden Herabsetzungen von zwei bis fünf Jahren). Dabei wird von älteren Bürgern zum Ausdruck gebracht, die DDR sei das einzige Land in Europa, in dem ein relativ hohes Rentenalter festgelegt sei. Es wäre nach ihrer Meinung jedoch angemessen, neue Regelungen zu treffen, da es bei den ständig steigenden Anforderungen im Berufsleben immer schwerer falle, mit zunehmendem Alter die geforderten Leistungen zu erbringen.
Unter Berufskadern der NVA gibt es Vorstellungen über eine mögliche Berentung ab 50. Lebensjahr bzw. nach 30 Dienstjahren.
Im Zusammenhang mit Spekulationen über Lohnerhöhungen wurden mehrfach Meinungen geäußert, der Staat fördere zu sehr die jungen Menschen mit sozialpolitischen Maßnahmen. Die älteren Bürger sowie Rentner hätten schon mehr als sie für den Aufbau unserer Republik getan und deshalb auch höhere Zuwendungen verdient. Teilweise wird auch Bezug auf die gegenwärtige Preisentwicklung und damit verbundene höhere Lebenshaltungskosten genommen.
Werktätige aus verschiedensten Bereichen diskutieren insbesondere über die Einführung einer 40-Stunden-Arbeitswoche für alle Berufstätigen. In diesem Zusammenhang erhoffen sich vorwiegend Pädagogen, aber auch Eltern schulpflichtiger Kinder den Wegfall des Unterrichts an Sonnabenden.
Darüber hinaus werden von unterschiedlichsten Personenkreisen, wenn auch in geringerem Umfang, solche Erwartungshaltungen geäußert wie:
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Erweiterte Reisemöglichkeiten in das NSA (Senkung des Reisealters, großzügigere Regelungen bei Reisen in dringenden Familienangelegenheiten),
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Verlängerung des Urlaubs,
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Verkürzung der Wartezeiten für Pkw-Bestellungen,
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gleiche Steuervergünstigungen für Männer und Frauen über 40 Jahre,
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bessere ärztliche Betreuung im ambulanten Bereich und in der stationären Versorgung der Patienten sowie in der Arzneimittelversorgung.
Außerdem wurde wiederholt die Erwartung ausgesprochen, der XI. Parteitag möge verbindliche Aussagen zur künftigen Preisentwicklung in der DDR treffen. Diesbezüglich wird auch damit gerechnet, dass Festlegungen über die Sicherung eines stabilen Warenangebots, speziell in den mittleren und unteren Preisgruppen, getroffen werden.
Aus allen Bezirken der DDR liegen Hinweise vor über zahlreiche Meinungsäußerungen zu angeblichen kaderpolitischen Veränderungen in der Partei- und Staatsführung im Zusammenhang mit dem XI. Parteitag.
Feststellungen ergaben, dass derartige Spekulationen nach entsprechenden Sendungen westlicher Funkmedien (so z. B. am 12. April und 29. April 1985 in den Sendern RIAS und SFB) verstärkt auftraten.
Mit den bekannt gewordenen kaderpolitischen Veränderungen in der Partei- und Staatsführung der UdSSR haben derartige Spekulationen an Umfang und Intensität zugenommen.
So wird verbreitet, es erfolge eine personelle Trennung zwischen der Funktion des Generalsekretärs des ZK der SED und des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR. Meinungsäußerungen zufolge werde Genosse Krenz5 neuer Generalsekretär und Genosse Honecker6 über ausschließlich die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates aus. Als Indiz dafür wird gewertet, dass Genosse Krenz immer stärker ins Blickfeld rücke.
Außerdem wird behauptet, der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Genosse Stoph,7 würde berentet. Für diese Funktion sei künftig Genosse Mittag8 vorgesehen. Derartige Spekulationen werden zum Teil auch von Mitgliedern der Partei widerspruchslos hingenommen bzw. weiterverbreitet.