Reaktion der Bevölkerung auf aktuelle Entwicklungen (2)
2. Dezember 1985
Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen der Bevölkerung der DDR [O/152]
Nach vorliegenden Informationen wird der Inhalt der unter allen Bevölkerungskreisen in der Hauptstadt und in den Bezirken der DDR geführten Diskussionen maßgeblich bestimmt durch den Verlauf und die Ergebnisse des sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffens1 sowie durch die in den veröffentlichten Materialien der 11. Tagung des Zentralkomitees der SED2 enthaltenen Orientierungen und Aufgabenstellungen.
Eindeutig dominiert in den Meinungsäußerungen die Feststellung, das Zustandekommen des Gipfeltreffens ist das Ergebnis der konsequenten und beharrlichen Um- und Durchsetzung der Friedensstrategie der UdSSR und aller Staaten der sozialistischen Gemeinschaft. Der insgesamt positive Verlauf des Treffens sei – so wird argumentiert – dem staatsmännischen Geschick, dem souveränen, prinzipienfesten und konstruktiven Auftreten des Genossen Gorbatschow3 zu verdanken. Häufig wird in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, durch die erfolgten Veränderungen in der sowjetischen Führungsspitze, insbesondere durch den Einsatz jüngerer Kader, habe die sowjetische Außenpolitik wieder eine größere Flexibilität und Ausstrahlungskraft erreicht.
Die Ergebnisse des Gipfeltreffens werden differenziert beurteilt. Grundtenor ist, das Treffen könnte Wege öffnen für eine Gesundung des internationalen Klimas und für die Rückkehr auf einen Kurs der Entspannung sowie für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA, verbunden mit positiven Auswirkungen auch auf die weitere Gestaltung der Beziehungen DDR – BRD.
Begrüßt werden die in der gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Erklärung enthaltene Bereitschaft beider Seiten zur Fortsetzung des Dialogs auf höchster Ebene sowie die darin enthaltenen bilateralen Vereinbarungen.4
Bezüglich des Abschlusses von konkreten Vereinbarungen zwischen der UdSSR und den USA über Rüstungsbegrenzung und -reduzierung sowie der Einleitung von praktischen Schritten auf diesem Gebiet widerspiegeln sich im Stimmungsbild auf vielfältige Weise Erwartungshaltungen, Hoffnungen, aber auch Skepsis und Unglaube.
In vielen Fällen äußerten Bürger, sie seien durch das Treffen in ihrer Auffassung bestätigt worden, dass eine erste Zusammenkunft der Repräsentanten beider Großmächte noch nicht zu messbaren Ergebnissen führen könne. Es wird jedoch die Hoffnung geäußert, dass die amerikanische Seite unter dem Einfluss dieses und folgender Treffen sowie der internationalen Öffentlichkeit ihre Haltung zur Abrüstung, insbesondere zum SDI-Projekt,5 überdenkt. Dennoch überwiegt die Befürchtung, die dominierende Rolle des Militär-Industrie-Komplexes in den USA und die Profitträchtigkeit des SDI-Programms werde auch auf lange Sicht konkrete Vereinbarungen zur Verhinderung des Wettrüstens unmöglich machen. Teilweise wird die von Reagan6 in Genf erklärte Bereitschaft, den Worten auch Taten folgen zu lassen, unter Hinweis auf die bisherige Politik des USA-Präsidenten und seine »Schauspielerqualitäten« angezweifelt.
Charakteristisch für die Bewertung des Treffens sind folgende Argumente:
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Das Treffen ist ermutigend und könnte ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Entspannung sein.
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Es ist ein Gewinn für die ganze friedliebende Menschheit, dass beide Staatsmänner miteinander gesprochen haben und damit der lange Zeit unterbrochene Dialog zwischen der UdSSR und den USA wieder in Gang gekommen ist.
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Der Weg zu einer wirklichen Entspannung, zu echten Sicherheitsgarantien für den Weltfrieden ist sehr weit, und sein tatsächlicher Verlauf ist noch nicht absehbar.
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Es bleibt abzuwarten, ob die USA bereit sind, von demagogischen Friedensbeteuerungen zu konkreten Abrüstungsschritten überzugehen.
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Solange Reagan Präsident der USA ist, werden keine Fortschritte auf dem Gebiet der Abrüstung erzielt.
Nach vorliegenden Hinweisen äußern sich kirchliche Amtsträger und religiös gebundene Bürger in der Öffentlichkeit zum Gipfeltreffen wesentlich intensiver als zu vorangegangenen aktuellen politischen Ereignissen und Anlässen. Die Mehrzahl von ihnen begrüßt das Zustandekommen des Treffens und anerkennt dabei die Rolle der UdSSR. Sie werten es als vertrauensbildende Maßnahme und erklärten wiederholt, durch das Treffen bestärkt worden zu sein, die sogenannte eigenständige kirchliche Friedensarbeit fortzusetzen. Nur einzelne auf politisch negativen Positionen stehende kirchliche Amtsträger forderten einseitige Abrüstungsvorleistungen der UdSSR bzw. eine »millionenfache Druckausübung« auf beide »Supermächte«.
Eine differenzierte Bewertung der Ergebnisse des Gipfeltreffens ist auch unter jugendlichen Personenkreisen festzustellen.
Äußerungen, die eine Überbewertung der Ergebnisse bzw. eine Unterschätzung der Gefahren erkennen lassen wie z. B. »mit dem Treffen ist der Frieden gesichert«, stehen gewisse politisch unklare Auffassungen gegenüber, die sich widerspiegeln z. B. in der Fragestellung: Wer wolle denn nun wirklich Frieden – beide Seiten nehmen das für sich in Anspruch.
Häufig wird in Diskussionen unterschiedlichster Personenkreise betont, eine Verbesserung des politischen Klimas zwischen den Großmächten würde auch das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten positiv beeinflussen. Teilweise werden – inspiriert durch entsprechende Sendungen westlicher elektronischer Medien – Spekulationen angestellt über
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das baldige Zustandekommen eines Treffens zwischen dem Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen E. Honecker7 mit Bundeskanzler Kohl,8
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»Erleichterungen« im Reise- und Besucherverkehr,
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Erweiterung der Kontakte auf den Gebieten Wissenschaft und Technik, Kultur und Sport.
Übersiedlungsersuchende äußerten, dass das Gesprächsthema »Menschenrechte« in Genf auch Rückwirkungen auf die DDR haben und zu einer schnelleren Bearbeitung ihrer Anträge führen werde.
Die Bedeutung der Gespräche in Genf abwertende bzw. politisch negative Äußerungen wurden bisher nur in geringem Umfang bekannt. Ausdruck dafür sind solche Argumente wie:
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Den Großmächten ist der Einfluss auf den Gang der Entwicklung bereits entglitten. Das Gipfeltreffen ist nur eine Beruhigungspille für die Weltöffentlichkeit.
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Auf dem Gipfel konnten keine konkreten Ergebnisse erzielt werden, da beide Seiten an der Aufrüstung interessiert sind.
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Durch das Treffen verändert sich nichts. Was die »Großen« machen und wollen, können wir sowieso nicht beeinflussen. Der Fortbestand der Menschheit ist allein von den Interessen und Launen der »Supermächte« abhängig.
Zustimmung hat die unverzügliche Informierung der höchsten Repräsentanten der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages9 über Verlauf und Ergebnisse des Gipfeltreffens durch den Generalsekretär des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow, gefunden.
In diesem Zusammenhang wurde mit großem Interesse die Abwesenheit von Regierungschefs einiger NATO-Staaten auf der Sondersitzung des NATO-Rates und die Informierung des französischen Staatspräsidenten Mitterrand10 über das Treffen durch den 1. Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Genossen Kornijenko,11 zur Kenntnis genommen.
Positiv bewertet wurde die Berichterstattung der DDR-Massenmedien über das Gipfeltreffen. Einzelne kritische Meinungsäußerungen bezogen sich ausschließlich auf die erfolgte Meldung über die antisowjetische Provokation anlässlich der 1. Pressekonferenz der sowjetischen Seite in Genf, die im Gegensatz zur Berichterstattung westlicher Medien keine näheren Angaben über Inhalt und Charakter dieser Provokation beinhaltete.12
Nach weiter vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR finden die Meinungsäußerungen zum Genfer Gipfel auch in den Diskussionen zur 11. Tagung des ZK der SED13 ihre Fortsetzung.
Der Bericht des Generalsekretärs des ZK der SED zu den Ergebnissen des Genfer Gipfels wird von der Mehrzahl sich dazu äußernder Personen als realistisch eingeschätzt.14
Wiederholt wurde dabei auf die vielfältigen Initiativen der Partei- und Staatsführung der DDR zum Zustandekommen einer Koalition der Vernunft und des Realismus hingewiesen. Die 11. Tagung des ZK der SED habe erneut den Willen der DDR bekräftigt, alles zu tun, um den Frieden zu erhalten. In diesem Zusammenhang wird besonders die Feststellung des Genossen Honecker in seiner Rede bekräftigt, nun erst recht für den Frieden kämpfen zu müssen.
Der Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des ZK wird als eine Art Bestandsaufnahme und Orientierung zur Lösung aktueller Aufgaben der Innen- und Außenpolitik in Vorbereitung auf den XI. Parteitag der SED15 gewertet. Besonders progressive Kräfte aus allen gesellschaftlichen Bereichen identifizieren sich mit der Forderung nach Erfüllung und Übererfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1985 und der Gewährleistung eines kontinuierlichen Plananlaufes 1986. Sie sehen darin die wichtigste Voraussetzung zur Weiterführung des Kurses der Hauptaufgabe. Anerkennung findet auch die im Bericht des Politbüros enthaltene Bilanz über den weiteren Leistungsanstieg der Volkswirtschaft. Er wird zum Teil als imponierend charakterisiert. Die auf der 11. Tagung des ZK der SED gestellten Aufgaben zur Erzielung weiterer Fortschritte in allen Zweigen der Volkswirtschaft haben bereits seit längerer Zeit geführte Diskussionen in Arbeitskollektiven aller Bereiche der materiellen Produktion zur Überwindung von Hemmnissen und Störfaktoren in Kombinaten und Betrieben weiter belebt.
Demzufolge nehmen kritische Hinweise zu solchen Problemen wie
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die ungenügende Beherrschung der Prozesse der Produktionsvorbereitung, des technologischen Ablaufs von Fertigungsprozessen,
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die teilweise über Jahre zu verzeichnende Vernachlässigung der Wartung, Pflege und Instandsetzung von Maschinen und Aggregaten,
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nicht ausreichende, qualitätsgeminderte bzw. zeitweilig vollständig fehlende Ersatzteillieferungen, die eine Stilllegung von Maschinen, Anlagen und Transportmechanismen, einen unrhythmischen Produktionsablauf, stundenweise Beschäftigungslosigkeit, häufige Umsetzungen in andere Bereiche zur Folge haben (z. B. Kraftfahrzeuginstandsetzungswerk Halle, Kombinat Deko Plauen, Peene-Werft Wolgast, Kombinat Umformtechnik Erfurt),
einen immer breiteren Raum ein.
Verbreitet sind Auffassungen, Führungs- und Leitungskräfte der Kombinate/Betriebe kümmerten sich nicht genügend vor Ort um die tatsächlichen Arbeits- und Produktionsbedingungen in den Fertigungsstätten, duldeten die Verletzung der Arbeitsdisziplin (vorzeitiges Verlassen der Arbeitsplätze, Ausdehnung der Arbeitspausen) bzw. scheuten sich vor der Anwendung arbeitsrechtlicher Maßnahmen bei Disziplinverstößen.
Von Kombinats-/Betriebsleitungen bekannt gegebene Informationen über den Stand der Planerfüllung werden, ausgehend von persönlichen Erfahrungen über die tatsächlich erbrachten Leistungen im eigenen Arbeitsbereich, häufig angezweifelt. Besonders aus den Bezirken Gera, Neubrandenburg, Dresden und Karl-Marx-Stadt liegen Hinweise darüber vor, dass die Bereitschaft von Werktätigen zur Durchführung von Sondereinsätzen an Wochenenden zur Aufholung von Planrückständen weiter abnimmt. Ablehnungen der Teilnahme an Sonderschichten erfolgten wiederholt unter Hinweis auf in deren Folge erneut auftretende Materialschwierigkeiten am Wochenbeginn.
In Betrieben, in denen sich die Zahl der Sonderschichten häuft, werden in der Diskussion offen Zweifel an der Richtigkeit bzw. am Funktionieren der sozialistischen Planwirtschaft geäußert.
Außerdem wird zunehmend auf entsprechende Bestimmungen im Arbeitsgesetzbuch verwiesen und die Überstundenarbeit zur Aufholung von Planrückständen als ungesetzlich bezeichnet.
Weitere Meinungsäußerungen beinhalten, durch eine enorme Erhöhung der Arbeitsintensität, die auf Kosten der Freizeit ginge, müssten die Werktätigen Versäumnisse von Leitern bei der Organisierung eines kontinuierlichen Produktionsablaufes wieder »ausbügeln«.
In diesem Zusammenhang werden Vergleiche mit bestimmten kapitalistischen Produktionsmethoden angestellt und es erfolgt eine Gleichsetzung.
Ständiger Inhalt kritischer Meinungsäußerungen sind solche, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen beeinträchtigende Faktoren wie
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unzureichende Bereitstellung von Arbeitsschutzmitteln (Bekleidung, Schutzeinrichtungen, Sicherungsmittel),
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Fehlen bzw. mangelnde Qualität von Arbeitsmitteln,
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Verschlechterung der Qualität des Werkessens, Störungen in der Pausen-, Nacht- und Wochenendversorgung.
Aus allen Bezirken der DDR liegen Hinweise über umfangreiche kritische Meinungsäußerungen zu den im Bericht des Politbüros enthaltenen Aussagen über den Stand des Versorgungsniveaus und der Dienstleistungen vor. (Eine wesentliche Zunahme kritischer Diskussionen insbesondere zu Versorgungsfragen, Dienstleistungen und die Lohn- und Preispolitik ist seit geraumer Zeit festzustellen.)
Dabei überwiegen Auffassungen, diesbezügliche Einschätzungen des 11. Plenums zur Lage auf diesem Gebiet stünden im Widerspruch zur Praxis. Die Partei fasse zwar gute Beschlüsse, aber deren Umsetzung vollziehe sich schleppend. Häufig wird unter Bezugnahme auf festgestellte Mängel/Lücken in der Versorgung auch geschlussfolgert, die zentralen staatlichen Organe seien nicht über die tatsächliche Lage auf diesen Gebieten informiert.
Auf zunehmendes Unverständnis, verbunden mit teilweise heftigen Reaktionen gegenüber dem Verkaufspersonal, stößt insbesondere bei berufstätigen Frauen das nach ihrer Auffassung völlig mangelhafte Angebot an saisongerechter Herbst- und Winterbekleidung für alle Altersklassen.
Genannt werden hauptsächlich
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Kinderoberbekleidung (Anoraks, Cordwaren, Popelinehosen, Strumpfhosen),
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Anoraks für Erwachsene, modische Herrenanzüge sowie Herrenhosen, Herrenoberhemden,
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Damenkostüme, weiße bzw. Festtagsblusen, aber auch
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Schuhwaren, insbesondere Sportschuhe und preisgünstige Sportbekleidung.
(Wie aus zuständigen zentralen staatlichen Organen intern bekannt wurde, traten bei der Mehrzahl der genannten Erzeugnisse infolge Lieferrückständen bzw. Stornierungen ernsthafte Versorgungsstörungen auf.
Trotz zusätzlicher Warenbereitstellung und realisierter Importe wird keine Stabilität in der Versorgung mit derartigen Waren erreicht. Entsprechend einer Entscheidung des Mitglieds des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, Genossen Mittag,16 wurden bzw. werden für die Monate Januar/Februar 1986 und für das 2. Halbjahr 1986 weitere Importe saisongerechter Winterbekleidung sowie von Sport- und Hausschuhen vorgenommen. Nach internen Einschätzungen werden jedoch auch dann nicht die beabsichtigte Stabilisierung und eine längerfristige Lösung der Versorgungslage bei diesen Erzeugnissen eintreten.
Hinzu komme, dass mit modischen NSW-Importen erfahrungsgemäß bei der Bevölkerung Bedarfswünsche nach modischen, attraktiven Artikeln geweckt werden, die beim gegenwärtigen Leistungsstand der Leichtindustrie der DDR nicht befriedigt werden können. Die Folge sei der Aufbau hoher, nur schwer absetzbarer Bestände, obwohl echte Marktlücken bestehen.)
Jugendliche Personenkreise bemängeln das Angebot an modischer Jugendbekleidung.
Nach ihrer Auffassung entspreche es nicht den Wünschen und Bedürfnissen der Jugend. In der Zeitung »Junge Welt« vorgestellte Modelle seien im Handel nicht erhältlich. Häufig leiten sie daraus die Schlussfolgerung ab, die Textil- und Bekleidungsindustrie sei unfähig, bedarfsgerecht zu produzieren.
Das hänge offensichtlich auch mit deren zu starrer Einbindung in das Planungssystem zusammen. Immer wieder werden insbesondere durch Jugendliche Vergleiche zum Warenangebot in der BRD angestellt und daran die Ergebnisse des Sozialismus gemessen.
Einen weiteren Schwerpunkt in den Meinungsäußerungen bilden kritische Hinweise über die unzureichende Bereitstellung von Ersatzteilen, besonders für Pkw und elektrische Haushaltsgeräte (Schwerpunkt Waschmaschinen, Kühl- und Gefrierschränke). Dies führe zu für die Kunden unzumutbaren langen Wartezeiten bei Reparaturen.
An dieser Situation habe sich – so wird argumentiert – trotz vorhandener zentraler Beschlüsse und Forderungen leitender Genossen, die das Problem durchaus richtig erkannt hätten, die Klärung der Ersatzteilproblematik als eine politische Aufgabe zu betrachten, nichts geändert.
Mitarbeiter von Serviceeinrichtungen und Dienstleistungsbetrieben verweisen darauf, dass vorhandene Qualitätsmängel bei solchen neuwertigen Erzeugnissen wie z. B. Kühlschränken und Waschmaschinen (Einbau störanfälliger Bauteile, die kurze Zeit nach Inbetriebnahme ausfallen) die Ersatzteilfrage noch verschärfen und die Reparaturzeiten weiter verlängern.
Äußerungen zufolge seien, bedingt durch die Engpässe bei vorgenannten Waren, zunehmend unlautere Verkaufspraktiken im Bereich des Handels und der Dienstleistungen (Verkäufe »unter dem Ladentisch«, Anbringen von Reservierungsschildern an Waren kurze Zeit nach Eintreffen in Verkaufseinrichtungen und Ähnliches) sowie Einkäufe während der Arbeitszeit festzustellen.
Zahlreiche Meinungsäußerungen lassen in wachsendem Maße Bedenken bzw. Zweifel an der Richtigkeit der Handelspolitik der DDR erkennen.
Das widerspiegelt sich in solchen Argumenten wie:
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Modische Erzeugnisse der DDR-Bekleidungsindustrie und andere gefragte Konsumgüter würden in die BRD und andere nichtsozialistische Staaten exportiert und dort zu »Schleuderpreisen« verkauft; für uns blieben die Ladenhüter.
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In der Berichterstattung der DDR-Massenmedien sei ständig von erfüllten und übererfüllten Plänen die Rede, ohne dass sich das Angebot in den Laden spürbar verbessere.
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Mangelwaren seien nur noch zu hohen Preisen in den Exquisit-Läden17 erhältlich. Das übersteige jedoch bei weitem die Möglichkeiten eines durchschnittlichen Einkommens.
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Wer z. B. in der Ungarischen VR ordentlich arbeite, könne sich etwas leisten. Dort sei – im Gegensatz zur DDR – alles im Angebot.
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Die Hauptstadt der DDR werde immer bevorzugt beliefert. Der »Rest« komme in die »Provinz«. (Diesbezügliche Äußerungen werden insbesondere von Bewohnern ländlicher Gebiete getätigt.)
Wiederholt werden auch solche Fragen aufgeworfen wie:
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Warum finden die Orientierungen auf ein gleichwertiges Angebot in allen drei Preisgruppen keine Beachtung mehr?
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Warum wird ständig auf Marktforschung orientiert, wenn es schon bei der Versorgung unserer eigenen Bevölkerung »an allen Ecken« fehlt?
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Wäre es nicht an der Zeit, der Bevölkerung offen mitzuteilen, dass der Delikat-18 und Exquisit-Handel künftig das Preisniveau bestimmen werde?
In diesem Zusammenhang wurde wiederholt aufmerksam gemacht, dass es progressiven Kräften immer schwerer falle, mit überzeugenden Gegenargumenten aufzutreten.
Einige unter ihnen resignieren und versuchen, derartigen Diskussionen auszuweichen.
Erhebliche und zum Teil heftige Reaktionen haben die besonders in einigen Stadtbezirken, Städten und Landgemeinden mehrerer Bezirke (Schwerpunkte Potsdam, Magdeburg, Dresden, Karl-Marx-Stadt) eingetretenen Rückstände bei der Auslieferung von Braunkohlenbriketts für die Haushalte ausgelöst. Davon betroffene Bürger reagierten in diesem Zusammenhang zum Teil ablehnend auf entsprechende Aussagen über die stabile Versorgung der Bevölkerung mit Brennstoffen im Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des ZK. Von zuständigen staatlichen Organen wurden aufgrund vorliegender kritischer Hinweise Überprüfungen in den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Potsdam vorgenommen. Dabei wurde festgestellt, dass ungeachtet einer Überbietung der Zielstellung der Versorgungskonzeption bei Braunkohlenbriketts in den betreffenden Bezirken tatsächlich Rückstände bei der Auslieferung von Braunkohlenbriketts für die Haushalte – wenn auch territorial differenziert – eingetreten sind.
Ursachen hierfür sind insbesondere Mängel in der leitungsmäßigen Beherrschung der Verteilerprozesse durch Energiekombinate und den VEB Kohlehandel in diesen Bezirken, nichtausreichende Kapazitäten für Transport, Lagerung und Umschlag sowie nicht voraussehbare und nach wie vor steigende Kohlebestellungen durch die Bevölkerung, u. a. auch bedingt durch die Auslieferung qualitätsgeminderter Braunkohlenbriketts (Schätzungen zufolge wird der bereits erhöhte Fonds von 16,7 Mio. t auf über 17 Mio. t ansteigen). Nach der am 27.11.1985 erfolgten Abstimmung zwischen dem Ministerium für Kohle und Energie und den Räten der Bezirke sowie den Beauftragten der Energiekombinate wird durch tägliche operative Lenkungsmaßnahmen des Ministeriums für Kohle und Energie und der Staatlichen Kohleversorgung die zentrale Einflussnahme auf die Beseitigung bestehender Auslieferungsrückstände in den betreffenden Territorien gesichert.
Im unmittelbaren Zusammenhang mit den vielfältigen Diskussionen zu Versorgungsfragen stehen auch umfassende Meinungsäußerungen zur Lohn- und Preispolitik.
Sie beinhalten zunehmend Feststellungen und Behauptungen über
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ein wachsendes Missverhältnis zwischen Preis, Qualität und Gebrauchswert von Erzeugnissen zu Ungunsten der Käufer (Angaben von Herstellern über höhere Gebrauchseigenschaften von Waren werden in der Regel angezweifelt);
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Disproportionen zwischen dem Lohn- und Einkommensniveau und der Preisentwicklung durch eine immer stärkere Verlagerung des Angebots qualitativ hochwertiger Waren und Erzeugnisse in den Delikat- und Exquisit-Handel;
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Veränderungen in der Relation des Warenangebots der unteren und mittleren zugunsten der oberen Preisklassen. (Darin eingeschlossen werden auch die erfolgten Neueinstufungen von Gaststätten in höhere Preisstufen.)
Im Mittelpunkt stehen dabei Auffassungen, erfolgte Lohn- und Gehaltserhöhungen für einzelne Berufsgruppen würden die »Preissteigerungen« nicht kompensieren.
Unvermindert andauernde Stellungnahmen erfolgen zu den Intershop-Einrichtungen.19
Jede neueröffnete bzw. erweiterte Einrichtung des Forum-Handels,20 besonders in der Nähe von Wohngebieten mit nicht ausreichenden Versorgungseinrichtungen, löst langanhaltende, heftige und überwiegend ablehnende Meinungsäußerungen aus. (Diesbezügliche Hinweise liegen insbesondere vor aus den Bezirken Rostock, Neubrandenburg und Erfurt im Zusammenhang mit der Eröffnung von neuen Forum-Kaufhallen in Rostock, Bergen/Rügen, Neubrandenburg und in Erfurt.)
Zahlreiche Parteimitglieder, weitere progressive Kräfte aus Großbetrieben, Mitarbeiter staatlicher Organe, Angehörige der Nationalen Volksarmee (Berufssoldaten) und deren Familienangehörige äußern sich besorgt über den möglichen ideologischen Schaden, der ihrer Auffassung nach größer sei als der ökonomische Nutzen. Außerdem argumentieren sie, Intershops seien für viele Bürger eine direkte Aufforderung, durch Westkontakte in den Besitz von Devisen zu kommen. Darüber hinaus werde damit der Schwarzhandel mit Devisen begünstigt. Ob gewollt oder nicht – so wird behauptet – würden die Nichtbesitzer von Devisen zu »Menschen zweiter Klasse« herabgestuft; Vorteile hätten u. a. solche Personen, die eine negative Einstellung zu unserem Staat besitzen.
Werktätige aus Kombinaten und Betrieben in Erfurt argumentierten im Zusammenhang mit der Plandiskussion 1986 und der Übernahme von Verpflichtungen anlässlich des XI. Parteitages der SED wie folgt:
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Wir werden ständig zu höheren Leistungen aufgefordert und setzen dafür unsere Kraft und Fähigkeiten ein, aber mit dem erhaltenen Lohn können wir nicht das kaufen, was wir brauchen oder möchten. Die hergestellten Erzeugnisse sind nicht für diejenigen, die die Werte schaffen.
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Dieses Forum-Kaufhaus ist eine Provokation gegen alle ehrlich arbeitenden Werktätigen. Dies kann sich hemmend auf die Leistungsbereitschaft auswirken.
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Man müsste fordern, einen Teil des Verdienstes in Forum-Schecks ausgezahlt zu bekommen.
Unverständnis löste die beschleunigte Errichtung einer Forum-Kaufhalle in Bergen/Rügen u. a. bei dem medizinischen Personal des dortigen Kreiskrankenhauses aus.
Mitarbeiter dieser Gesundheitseinrichtung verwiesen darauf, dass auf der einen Seite wegen fehlender Mittel Patienten noch in zwei auf dem Gelände des Krankenhauses befindlichen Baracken untergebracht sind, während andererseits Mittel und Kräfte für den Neubau einer Forum-Einrichtung zur Verfügung ständen.
Zunehmend richtet sich die Kritik gegen den Verkauf von DDR-Erzeugnissen im Intershop, die als Engpässe im »normalen« Warenangebot gelten. Genannt werden insbesondere Kfz-Ersatzteile, Textilwaren, Spielwaren und Geräte für den Kleingärtner- und Siedlerbedarf.
Konkrete Hinweise über Reaktionen auf den Beschluss der 11. Tagung des ZK der SED über die Entbindung der Genossen Häber21 und Naumann22 von ihren Funktionen eines Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK aus gesundheitlichen Gründen liegen bisher nur in geringem Umfang vor.
Vereinzelt haben die Kaderveränderungen unmittelbar vor Stattfinden der Bezirksdelegiertenkonferenzen bzw. vor dem XI. Parteitag Verwunderung ausgelöst.
Wiederholt wurde der genannte Grund ihrer Funktionsentbindung angezweifelt. So wurde u. a. spekuliert:
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Im Politbüro habe es Unstimmigkeiten gegeben.
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Das Politbüro orientiere sich stärker an der Kaderarbeit der KPdSU und wolle sich verjüngen.
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Genosse Häber habe in Fragen der Westarbeit Fehler gemacht.
Besonders Bürger der Hauptstadt der DDR spekulieren bezogen auf die Person des Genossen Naumann, Ursachen der Ablösung seien nicht parteimäßiges Auftreten in der Öffentlichkeit und unmoralischer Lebenswandel. Offensichtlich – so wird argumentiert – seien die »wahren Gründe« nicht genannt worden, um das Ansehen der Partei nicht zu schädigen.
Vereinzelt bedauerten Mitglieder und Funktionäre der Partei, insbesondere Jugendfunktionäre der Hauptstadt, die Entscheidung mit dem Hinweis, Genosse Naumann sei durch sein jugendgemäßes Auftreten in der Öffentlichkeit beliebt gewesen.
Einige hinlänglich bekannte feindlich-negative Kräfte aus der Hauptstadt äußerten internen Hinweisen zufolge, die Genossen Naumann und Häber seien einem »Machtkampf« zum Opfer gefallen.