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Reaktion der Bevölkerung auf den 40. Jahrestag des Sieges

6. Mai 1985
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf den 40. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes [O/143]

Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken, einschließlich der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge, finden die vielfältigen Aktivitäten zur würdigen Begehung des 40. Jahrestages der Befreiung große Beachtung.1

Die Meinungsäußerungen von Bürgern aller Bevölkerungsschichten lassen erkennen, dass die zahlreichen Veranstaltungen und propagandistischen Aktivitäten sowie die Beiträge in den Massenmedien der DDR in Vorbereitung auf diesen gesellschaftlichen Höhepunkt eine optimistische sowie kämpferische Atmosphäre hervorgerufen haben, die sich in vielfältigsten Initiativen der Werktätigen widerspiegelt. Die Befreiungstat der Sowjetunion und ihrer Verbündeten wird grundsätzlich anerkannt und gewürdigt.

Die hohe Wertschätzung der Leistung der Sowjetarmee bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus wird häufig verbunden mit der Verpflichtung, an der Verwirklichung der Hauptlehre dieses Krieges, den Frieden dauerhaft zu sichern, mitwirken zu wollen.

Oftmals werden in den Diskussionen über den 40. Jahrestag der Befreiung auch Bezugspunkte zu den neuen Friedensinitiativen der UdSSR2 hergestellt, und es wird die Kontinuität der sowjetischen Außenpolitik hervorgehoben.

Im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten werden auch die unterschiedlichsten Veranstaltungen in den ehemaligen Konzentrationslagern und Gedenkstätten des antifaschistischen Widerstandskampfes sowie die stattgefundenen Treffen sowjetischer und amerikanischer Kriegsveteranen in Torgau [Bezirk] Leipzig3 und Barth, [Bezirk] Rostock4 als emotional wirksam eingeschätzt und begrüßt.

(Beachtenswert sind jedoch auch vorliegende Hinweise über Auffassungen besonders älterer Einwohner der Stadt Barth, [Bezirk] Rostock, in denen Unverständnis über die Errichtung eines Ehrenhains für USA-Flieger im ehemaligen Kriegsgefangenenlager in Barth geäußert wird, da sie an den anglo-amerikanischen Terrorangriffen vor allem auf solche Städte wie Chemnitz/Karl-Marx-Stadt und Dresden beteiligt gewesen seien.5)

Insbesondere DDR-Bürger der älteren Generation argumentieren, man wisse, was Krieg bedeute, mit welchem unbeschreiblichen Schrecken und Leid er verbunden ist.

Darum müsse ihrer Auffassung nach alles getan werden, um

  • die Greueltaten des Faschismus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen,

  • gerade der Jugend immer wieder vor Augen zu führen, welche reale Gefahr vom Imperialismus ausgehe,

  • die Bürger unseres Landes zur Wachsamkeit und klassenmäßigen Beurteilung aller Vorgänge im internationalen Geschehen zu erziehen.

In vielen Meinungsäußerungen anlässlich des 40. Jahrestages des Sieges und der Befreiung wird die friedensbedrohende Politik der USA-Administration und der BRD-Regierung scharf kritisiert.

Arbeiter, Angestellte, Genossenschaftsbauern sowie Angehörige der Intelligenz lehnen vielfach die Haltung führender Politiker der BRD ab, den 8. Mai 1945 als Tag der Schande, der Kapitulation und Trauer begehen zu wollen.

Sie argumentieren,

  • wer einen solchen bedeutenden historischen Tag nicht als Grund zur Freude betrachte, müsse selbst noch mit den Ideen des Faschismus verwurzelt sein,

  • eine derartige Haltung zeige, wessen Geist in der BRD regiere,

  • wer sich in der heutigen Zeit zu den Verfechtern der Konfrontation bekenne, müsse selbst eine aggressive Position beziehen.

In diesem Zusammenhang wird die bekundete Teilnahme sowie das beabsichtigte Auftreten vom Bundeskanzler der BRD, Kohl,6 am »Schlesiertreffen«7 als unerhörte Provokation vor der Weltöffentlichkeit gewertet.

Vor allem ältere Bürger verweisen mit Besorgnis darauf, dass sich in der BRD selbst junge Menschen als »Vertriebene« fühlten, ohne überhaupt eine persönliche Bindung an die ehemaligen deutschen Gebiete zu haben.

Neben überwiegend zustimmenden Reaktionen auf den Beschluss der Partei- und Staatsführung, den 8. Mai 1985 in der DDR als gesetzlichen Feiertag zu begehen, gibt es teilweise unter Arbeitern und Angestellten aus volkseigenen Betrieben auch ablehnende Meinungen, verbunden mit abwertenden Äußerungen.

Im Mittelpunkt derartiger »Argumentationen« stehen Feststellungen wie:

  • Durch Initiativ- und Sonderschichten müsse diese Zeit wieder eingearbeitet werden.

  • Als »Feiertag« hätte man sich diesen Tag sparen können. Vielleicht hätte man ihn zum »Tag der höchsten Produktion« erklären sollen, um eingegangene Verpflichtungen umfassend erfüllen zu können.

Vorliegenden Hinweisen zufolge beziehen konfessionell gebundene Personen, darunter vorwiegend kirchliche Amtsträger der evangelischen Kirchen differenzierte Haltungen zum Jubiläum.

Auf politisch realistischen Positionen stehende kirchliche Amtsträger charakterisieren den 40. Jahrestag als ein für die deutsche und Weltgeschichte bedeutendes Ereignis, das vor allem für das deutsche Volk die Chance eines Neubeginns dargestellt habe. Die Kirche wolle, so wurde von ihnen zum Ausdruck gebracht, mit diesbezüglichen Veranstaltungen einen Beitrag zum Frieden leisten. Sie sei bemüht, aus der Vergangenheit die richtigen Lehren zu ziehen.

In Einzelfällen wurde durch kirchliche Amtsträger in Meinungsäußerungen zum Ausdruck gebracht,

  • das gemeinsame »Wort zum Frieden« der evangelischen Kirchen der DDR und der BRD gewinne angesichts der wachsenden revanchistischen Tendenzen in der BRD immer mehr an Bedeutung,8

  • es müsse jeder noch mehr dazu beitragen, dass sich die Menschen für den Frieden engagieren,

  • ein wichtiges Ergebnis aus den Lehren des Zweiten Weltkrieges sei, dass jetzt in der DDR die Möglichkeit bestehe, den Wehrdienst auch ohne Waffe ableisten zu können.9

Darüber hinausgehende Auffassungen beinhalten, sich in diesem Zusammenhang der Schuldfrage zu stellen, die vor dem deutschen Volk stehe. Der einzige Weg zum Frieden sei, vom eigenen Schuldbekenntnis auszugehen und den Weg der Vergebung zu gehen.

Einzelne, vorwiegend reaktionäre kirchliche Kräfte, brachten zum Ausdruck, seitens der Kirche gebe es kaum Möglichkeiten, zu gesellschaftlichen Höhepunkten eigene Aktivitäten ohne staatliche Kontrolle zu entwickeln.

Sie sind der Auffassung,

  • nur derjenige habe die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen, der im Sinne des Pazifismus handele,

  • man solle sich mehr für die Wehrdienstverweigerung in der DDR10 engagieren,

  • von »Befreiung« könne keine Rede sein, da es noch nicht zur »Versöhnung« der Menschen gekommen sei: Haupthindernis sei dafür der Klassenstaat,

  • man könne sich nicht befreit fühlen, da man ja »besetzt« wurde; die Befreiung habe für viele Deutsche nur Leid gebracht.

In Einzelfällen griffen Personen Argumentationen westlicher Massenmedien auf und würdigten die Rolle der UdSSR bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus sowie die Bedeutung des 8. Mai 1945 für das deutsche Volk herab.

Sie äußerten:

  • Der 8. Mai könne in der DDR nicht als Tag des Sieges gefeiert werden, da das deutsche Volk nicht zu den Siegern im Zweiten Weltkrieg gehöre.

  • Dieser Tag sei kein Grund zum Jubeln, sondern zur Besinnung bestimmt.

  • In der Propaganda hätten auch die »Kriegsopfer« des deutschen Volkes Erwähnung finden müssen, da sie vom Faschismus missbraucht worden seien.

Darüber hinaus wurde vereinzelt unterstellt, dass die Verbündeten der UdSSR im Zweiten Weltkrieg nicht gebührend als Siegermächte hervorgehoben worden seien.

Auf feindlich-negativen Grundpositionen stehende Kräfte brachten in Einzelfällen zum Ausdruck, es dürfe keinesfalls vergessen werden, wie die »Russen« nach 1945 in Deutschland »gehaust« hätten. Die Sowjetarmee habe auf deutschem Boden Schlimmeres getan, als die faschistische Wehrmacht in den besetzten Gebieten.

Im Zusammenhang mit der Vorbereitung zu den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes liegen aus mehreren Bezirken Hinweise zur Medienpolitik vor.

Generell wird anerkannt, dass insgesamt eine wirksame propagandistische Arbeit geleistet wurde, indem interessante Fakten und Beiträge veröffentlicht wurden.

Vor allem ältere Bürger haben die Informationen als willkommenen Rückblick auf die Vergangenheit und den schweren Anfang hoch geschätzt.

Darüber hinaus wird jedoch auch zunehmend kritisch festgestellt, die Fülle der Informationen sei nicht mehr zu verarbeiten; es trete eine Übersättigung ein. Mehrfach äußerten Bürger, darunter vor allem Jugendliche und Studenten,

  • die Vielzahl der Sendebeiträge führe dazu, dass deren Inhalt nicht mehr voll erfasst werde,

  • ständige Wiederholungen von Berichterstattungen ähnlichen Inhalts ließen die emotionale Wirkung abflachen,

  • es sei an der Zeit, sich in den Medien auch wieder anderen Themen zuzuwenden.

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    9. Mai 1985
    Information Nr. 198/85 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 29. April 1985 bis 5. Mai 1985

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    6. Mai 1985
    Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf den Staatsbesuch des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Honecker, in der Italienischen Republik [O/142]