Reaktion der Bevölkerung auf die 10. ZK-Tagung
1. Juli 1985
Erste Hinweise zu Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die 10. Tagung des ZK der SED [O/145]
Nach bisher vorliegenden Hinweisen aus den Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, finden die Ergebnisse der 10. Tagung des ZK der SED1 unter breiten Bevölkerungskreisen Interesse und Beachtung. Die Veröffentlichungen zur Tagung wurden aktuell zur Kenntnis genommen und bilden zunehmend den Ausgangspunkt vielfältiger Meinungsäußerungen.
Grundtenor ist, dass mit dem Plenum eine umfassende und klare Orientierung für die weitere Arbeit auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens bis zum XI. Parteitag der SED2 gegeben wurde. Aus den Beiträgen (Bericht, Rede des Generalsekretärs des ZK der SED, Diskussionsbeiträge) ergebe sich ein eindrucksvolles Bild vom Leistungswillen und von der Bereitschaft der Bevölkerung der DDR zur bewussten Mitgestaltung unserer sozialistischen Entwicklung und zur würdigen Vorbereitung des XI. Parteitages.
Ausgehend davon brachten Arbeiter, Genossenschaftsbauern und Angehörige der Intelligenz in ersten Verpflichtungen ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, den Vorgaben der 10. Tagung durch konkrete Leistungen/Ergebnisse am Arbeitsplatz (optimale Ergebnisse vor allem in der materiellen Produktion) zu entsprechen.
Mit besonderem Interesse wurden die Ausführungen des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker,3 verfolgt.
Vor allem politisch interessierte Bürger stellten mit Genugtuung fest, dass zu brennenden Fragen der internationalen Politik Stellung genommen und Antwort auf Fragen, Probleme und anstehende Aufgaben in Vorbereitung des XI. Parteitages gegeben wurde.
Im Mittelpunkt diesbezüglicher Meinungsäußerungen standen solche Fragen wie
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das kontinuierliche Ringen der Partei- und Staatsführung um die Erhaltung und Sicherung des Friedens,
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die vorgenommene Analyse des in der Volkswirtschaft der DDR Erreichten sowie
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die auf die Stärkung und Sicherung unseres Staates abzielenden Aufgaben auf ökonomischem Gebiet.
Bei der Bewertung der außenpolitischen Aktivitäten der Partei- und Staatsführung wurde mit Zustimmung aufgenommen, erneut die Frage der Friedenssicherung zur dringendsten Aufgabe der gegenwärtigen Entwicklung zu stellen und einen aktiven Beitrag zur Gesundung des internationalen Klimas zu leisten. Neben der unbedingten Stärkung der Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft sei auch ein konstruktiver Dialog mit Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung weiterhin von Wichtigkeit. Der Gestaltung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten komme immer größere Bedeutung zu.
In diesem Zusammenhang wurde u. a. auf die gemeinsame Initiative der SED und SPD zur Bildung einer von chemischen Waffenfreien Zone in Europa verwiesen.4
Gleichzeitig äußerten jedoch progressive Bürger ihre Besorgnis über das Auftreten von Bundeskanzler Kohl5 auf dem »Schlesiertreffen«6 in Hannover. Seine Unterstützung revanchistischer Kräfte in der BRD könne negative Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Beziehungen DDR – BRD haben.
Die Partei- und Staatsführung unserer Republik könne, so wird unter Bezugnahme auf entsprechende Ausführungen des Genossen Honecker argumentiert, die diesbezügliche Haltung des Bundeskanzlers Kohl nicht übersehen.
Mit Interessiertheit wurden die vielschichtigen Probleme zur innenpolitischen Lage aufgenommen.
Ungeteilte Anerkennung findet unter breiten Bevölkerungskreisen die bewährte Fortführung der vom VIII. Parteitag der SED beschlossenen Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik.7 Unter Berücksichtigung der angespannten Situation auf dem Weltmarkt – so wird argumentiert – sei das bisher Erreichte jedoch nur in enger Zusammenarbeit mit der UdSSR, vor allem als zuverlässiger Handelspartner, möglich gewesen. Jetzt komme es darauf an, die ökonomische Entwicklung durch umfassende Intensivierung weiter zu beschleunigen. Dabei stellten Wissenschaft und Technik ein echtes Bewährungsfeld für alle Werktätigen dar.
Insbesondere unter Angehörigen der Intelligenz, darunter Wissenschaftler und wissenschaftlich-technische Kader, wurden in erster Auswertung der Rede des Genossen Honecker Meinungsäußerungen zur Wirtschaftsstrategie der Partei und zu den Kernpunkten unseres weiteren Wirtschaftswachstums geführt.
In der Mehrheit der sich dazu äußernden Personen wurde die Richtigkeit der künftigen Entwicklung auf dem Wege der Intensivierung hervorgehoben, da sich auf dieser Basis der Lebensstandard des Volkes kontinuierlich weiterentwickelt habe.
Sie argumentierten:
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Die Wissenschaften seien in der Lage, einen großen Beitrag zur Steigerung unserer ökonomischen Potenzen zu leisten.
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Eine Orientierung der Grundlagenforschung auf die Erfordernisse der Volkswirtschaft sei eine bedeutende Aufgabe zur Sicherung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung.
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Für die Realisierung dieser Zielstellung müsse eine noch höhere Stufe der Kooperation zwischen Forschungseinrichtungen und Kombinaten/Betrieben erreicht werden.
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Es komme auch darauf an, die Arbeitskräfte zu qualifizieren und mit ihrem hohen Wissen und ihren Fähigkeiten an der richtigen Stelle einzusetzen.
In manchen Betrieben, so wird festgestellt, müsse ein »echtes Umdenken« erfolgen, um den höheren Anforderungen gerecht werden zu können.
Werktätige aus produktiven Bereichen, darunter auch Mitglieder der Partei, brachten wiederholt zum Ausdruck, die Erfüllung der an sie gestellten Aufgaben erfordere künftig eine kontinuierlichere materiell-technische Sicherstellung, um alle Initiativen auszuschöpfen und die gestellten Ziele zu realisieren.
In Einzelfällen wurden unter Bezugnahme auf die Tagung – vor allem auf Diskussionsbeiträge – die erreichten Ergebnisse bei der Planerfüllung als unreal eingeschätzt und die Behauptung aufgestellt, im Rahmen der Abrechnung von Produktionsergebnissen und Kennziffern würde noch viel »Schönfärberei von unten nach oben« betrieben.
Wahrheitsgetreue Berichterstattungen an übergeordnete Stellen seien nach Auffassung dieser Werktätigen jedoch notwendig, um der Partei- und Staatsführung ein reales Bild zu vermitteln.
Werktätige aus produktiven Bereichen verschiedener Bezirke der DDR vertraten die Ansicht, man könne zwar insgesamt auf unsere gute Bilanz stolz sein, dürfe jedoch nicht nur die Erfolge sehen. Aufgrund angeblich unzureichenden Bautempos vor allem in kleineren Städten und Gemeinden könne das Wohnungsproblem als soziale Frage bis 1990 insgesamt nicht gelöst werden; man zweifele damit die volle Realisierbarkeit des Wohnungsbauprogramms als Kernstück des sozialpolitischen Programms der Partei an.
Unter Werktätigen des Transport- und Verkehrswesens des Bezirkes Karl-Marx-Stadt gab es differenzierte Auffassungen zum Diskussionsbeitrag des Verkehrsministers,8 Genossen Arndt.9 Während von ihm nur über die guten Ergebnisse des Verkehrswesens insgesamt gesprochen wurde, blieben jedoch die Probleme, mit denen sich die Arbeiter täglich auseinandersetzen müssten, unerwähnt.
So wurden durch Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn solche »Tatsachen« angeführt, wie
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die angespannte Arbeitskräftesituation bei der Deutschen Reichsbahn,
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der unbefriedigende Zustand der Wagenparks und
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Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Ordnung, Disziplin und Sicherheit.
Weiter stieß auf Unverständnis, dass keine Aussagen zum derzeitigen Straßenzustand bzw. zur künftigen Instandsetzung des Straßennetzes getroffen wurden.
Im Zusammenhang mit der 10. Tagung werden nach wie vor Zweifel an der ökonomischen Bilanz der DDR geäußert; zum Teil gibt es heftige Diskussionen über die
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Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs, das Angebot an Industriewaren und hochwertigen Konsumgütern,
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Erweiterung des Delikat- und Exquisit-Handelsnetzes einschließlich deren Sortimentsbreite,10
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damit im Zusammenhang stehende Fragen der Preisgestaltung.
Volle Zustimmung fanden deshalb die orientierenden Hinweise des Genossen Honecker vor allem zu Problemen des Handels und der Versorgung; es wurde die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass sich
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die weitere Ausräumung von Versorgungsproblemen stimulierend auf die Arbeitsleistungen der Werktätigen auswirke,
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unsere Handelsorgane endlich auf die gewachsenen Bedürfnisse der Bürger einstellen,
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das »Missverhältnis« zwischen Angebot und Nachfrage zugunsten der Käufer schnellstens beseitigen ließe.
Bisher habe es keine bzw. nur ungenügend sichtbare Veränderungen im Handelsgeschehen gegeben.
Immer mehr Bürger erwarten diesbezüglich eine durchgreifende Verbesserung sowie eine klare und kompromisslose Haltung verantwortlicher Organe mit dem Hinweis darauf, dass zu jedem Plenum über eine notwendige Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung, vor allem mit hochwertigen Konsumgütern, gesprochen werde.
In Diskussionen wurden u. a. solche Behauptungen aufgestellt, dass nicht immer diejenigen Nutznießer der erreichten Erfolge wären, die einen erheblichen Anteil an ihrem Zustandekommen hätten und ein soziales Gefälle auch unter den Werktätigen in der DDR festzustellen sei.
In engem Zusammenhang mit der Auswertung der 10. Tagung des ZK der SED wurde durch breite Teile der Bevölkerung, darunter Arbeiter, Angestellte und Angehörige der Intelligenz, auf die Rede des Genossen Gorbatschow11 zu Grundfragen der Wirtschaftspolitik der KPdSU auf der Beratung zu Fragen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in Moskau verwiesen.12 Hier wurden ihrer Meinung nach »offen und ungeschminkt« grundlegende innenpolitische Probleme, insbesondere Fragen der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung der UdSSR, angesprochen, und es erfolgte gleichzeitig eine harte Auseinandersetzung mit noch vorhandenen Mängeln.
Mit besonderer Zustimmung wurde die namentliche Nennung von Leitungskadern der Volkswirtschaft der UdSSR aufgenommen, die die umfassende Durchsetzung der Wirtschaftsstrategie nicht in erforderlichem Maße vorantreiben konnten. Im Vergleich zur DDR sei eine derart schonungslose Kritik zu Leitungskadern nach Auffassung einzelner Bürger zufolge unvorstellbar.
Vor allem in der materiellen Produktion stehende Werktätige forderten wiederholt, auch bei uns kritischer an die Beurteilung der Lage heranzugehen. Das konkrete Ansprechen von bestehenden Problemen müsste ihrer Meinung nach auch von der Partei- und Staatsführung der DDR noch stärker praktiziert werden. Trotz guter Erfolge in der Volkswirtschaft unserer Republik sollten Mängel und Missstände nicht verschwiegen werden. Ein solches Vergehen wie Genosse Gorbatschow demonstriert habe, würde ihrer Meinung nach uns gut »zu Gesicht stehen«, da nur so Schwierigkeiten vorwärtsschreitend überwunden werden könnten.
Auch in Auswertung der 10. Tagung geäußerte Erwartungshaltungen und Spekulationen im Hinblick auf den XI. Parteitag der SED beziehen sich vorwiegend auf weitere sozialpolitische Maßnahmen wie
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die Herabsetzung des Rentenalters,
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Lohnerhöhungen für Werktätige mit einem relativ geringen Verdienst,
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die Einführung der 40-Stunden-Arbeitswoche für alle Werktätigen.