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Reaktion der Bevölkerung auf Gorbatschows Frankreich-Reise

14. Oktober 1985
Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf den offiziellen Besuch des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, in der Französischen Republik [O/151]

Der Besuch des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow,1 in Frankreich hat unter breiten Teilen der Bevölkerung reges Interesse hervorgerufen.2 Er wird eingeordnet in die Aktivitäten der sowjetischen Partei- und Staatsführung zur Erhaltung und Sicherung des Weltfriedens.

Insbesondere die vor französischen Parlamentariern gehaltene Rede des Genossen Gorbatschow zu Fragen der Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion hat unter der Bevölkerung der DDR breite Diskussionen ausgelöst.3 Mit großer Aufmerksamkeit wurden die neuerlichen Vorschläge an die USA zum Stopp des Wettrüstens aufgenommen und fanden ungeteilte Zustimmung.

Arbeiter, Genossenschaftsbauern, Angestellte und Angehörige der Intelligenz heben in Meinungsäußerungen die Ernsthaftigkeit der sowjetischen Friedensbemühungen hervor und werten sie als neue Impulse zur Entspannung der internationalen Lage.

Das kluge und weitsichtige Auftreten des Genossen Gorbatschow in Frankreich zeige – so wird argumentiert – wie verantwortungsbewusst die UdSSR an die Beantwortung der wichtigsten Frage unserer Zeit, die Erhaltung des Friedens, herangehe.

Immer wieder wird in Diskussionen zum Ausdruck gebracht, dass

  • es den USA unter diesen Bedingungen schwerfallen dürfte, die unterbreiteten Vorschläge zu ignorieren,

  • die einseitigen Vorleistungen der Sowjetunion die Reagan-Administration zu konstruktiven Antworten zwingen müssten,

  • jetzt beste Voraussetzungen gegeben seien, das eskalierte Wettrüsten schnellstens zu beenden.

Häufig wird in Meinungsäußerungen ein enger Zusammenhang zwischen dem Besuch des Genossen Gorbatschow in Frankreich und dem bevorstehenden Gipfeltreffen mit USA-Präsidenten Reagan4 hergestellt.

Es wird hervorgehoben, Frankreich besitze unter den NATO-Staaten einen nicht zu unterschätzenden Einfluss und ordne sich nicht bedingungslos dem USA-Diktat unter, was insbesondere in der Ablehnung der Teilnahme an dem von Reagan vorgesehenen westlichen Gipfeltreffen und in der ablehnenden Haltung Frankreichs zum SDI-Programm der USA5 zum Ausdruck komme. Die Gespräche zwischen der UdSSR und Frankreich könnten daher der Entspannung der Lage in Europa dienlich sein.

Politisch interessierte Bürger brachten wiederholt zum Ausdruck, dass die sowjetische Außenpolitik seit der Amtsübernahme des Genossen Gorbatschow flexibler gestaltet werde und begründen das u. a. mit den jüngsten Abrüstungsvorschlägen der UdSSR. So würden sich z. B. aus dem Vorschlag, sowohl mit Frankreich als auch mit Großbritannien über ihr Nuklearpotenzial direkt zu verhandeln, neue Möglichkeiten für das Zustandekommen positiver Vereinbarungen in Genf ergeben. Das berechtige zu neuen Hoffnungen.

In diesem Zusammenhang wird jedoch unter Hinweis auf die starre Haltung der USA bei vorangegangenen Verhandlungen die Befürchtung geäußert, die Reagan-Administration betreibe einen festgeschriebenen Kurs der militärischen Konfrontation gegenüber der UdSSR und ließe sich weder durch Vorschläge und einseitige Maßnahmen der sowjetischen Seite, noch durch ein Abwenden wichtiger NATO-Bündnispartner wie Frankreich von den amerikanischen »Sternenkriegs«-Plänen zum Stopp des Wettrüstens veranlassen.

Einzelnen Meinungsäußerungen zufolge erscheine ein weiteres Entgegenkommen der UdSSR im Interesse der eigenen Sicherheit und der sozialistischen Bündnispartner kaum noch möglich.

In Übereinstimmung mit entsprechenden Sendungen westlicher Funkmedien vertreten politisch-labile Personen die Auffassung, die UdSSR beabsichtige mit dem Besuch in Frankreich einen Keil zwischen die westeuropäischen Staaten und die USA zu treiben.

Offensichtlich wolle man die zwischen den NATO-Staaten bestehenden Differenzen bezüglich der Rüstungspolitik der USA weiter vertiefen und sie für die Durchsetzung der eigenen Ziele nutzen.

Bei der Mehrheit bekannt gewordener Meinungsäußerungen beziehen vor allem kirchlich gebundene Personen, darunter Amtsträger, eine positive Haltung zu den neuen Vorschlägen der UdSSR. Abwertende Auffassungen wurden nur in Einzelfällen bekannt und beinhalten:

  • Gespräche auf höchster Ebene brauchten nicht noch kommentiert werden; wir hätten doch sowieso keinen Einfluss und seien machtlos.

  • Man solle sich nicht um die »große Politik« kümmern. Im Vordergrund sollte besser die Klärung kommunaler Probleme stehen.

Einzelne Mitarbeiter der Hoffnungsthaler Anstalten Lobetal, [Bezirk] Frankfurt/Oder, eine Einrichtung des Diakonischen Werkes – Innere Mission und Hilfswerk – der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, brachten zum Ausdruck, Genosse Gorbatschow habe erstmals Abrüstungsvorschläge unterbreitet, mit denen auch die »Vorrüstung« der UdSSR zurückgenommen werde.

Ihrer Meinung nach würde dadurch auch die Möglichkeit eröffnet, dass der »soziale Friedensdienst«6 in der DDR als eine Alternative zum Wehrdienst eingeführt werde. Die Richtigkeit der Auffassung vom »Frieden schaffen ohne Waffen« sei offensichtlich bis zum Kreml vorgedrungen. Es gelte nun, die Sowjetunion beim Wort zu nehmen.

Feindlich-negative Personen aus dem Bezirk Erfurt, die in sogenannten Friedenskreisen tätig sind, brachten im Zusammenhang mit den Abrüstungsvorschlägen der UdSSR ihre Ablehnung gegenüber der aus Anlass des Jahrestages der DDR in Berlin durchgeführten Militärparade7 zum Ausdruck und argumentierten:

  • Die Parade würde im Widerspruch zur erklärten Friedenspolitik unseres Staates stehen.

  • Sie diene nicht der Entspannung der politischen Situation in Europa.

  • Militärparaden riefen nur Unruhe unter der Bevölkerung hervor.

  • Sie »argumentierten« weiter, man könne nicht die Kriegspolitik der USA verurteilen und gleichzeitig ein militärisches Schauspiel veranstalten.

Übersiedlungsersuchende reagierten insbesondere auf die Ausführungen des Genossen Gorbatschow zum »humanitären« Problem. Derartige Personen brachten vereinzelt zum Ausdruck, die DDR sei nun »gezwungen«, Anträge von Übersiedlungsersuchenden schnell und human zu klären.

  1. Zum nächsten Dokument Einnahmen Mindestumtausch, 7.–13.10.1985

    16. Oktober 1985
    Information Nr. 424/85 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 7. Oktober 1985 bis 13. Oktober 1985

  2. Zum vorherigen Dokument Reaktion der Bevölkerung zur Vorbereitung des XI.Parteitages

    11. Oktober 1985
    Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit der Vorbereitung des XI. Parteitages der SED [O/150]