Reaktion der Bevölkerung auf Rückkehrerkampagne im ND (2)
11. März 1985
Weitere Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Veröffentlichungen in unseren Massenmedien zu den Rückkehrabsichten ehemaliger DDR-Bürger (2. Bericht) [O/138a]
Hinweisen aus allen Bezirken, einschließlich der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge hat die Mitteilung über den Wunsch einer großen Zahl ehemaliger DDR-Bürger nach Rückkehr in unsere Republik umfangreiche Diskussionen ausgelöst.1
Bürger aller Bevölkerungsschichten haben die in diesem Zusammenhang erfolgten mehrfachen Veröffentlichungen mit außerordentlich großem Interesse aufgenommen und begrüßen das politisch-offensive Vorgehen der Partei- und Staatsführung. Sie sehen darin eine politisch gut überlegte Maßnahme der DDR in der gegenwärtigen Klassenauseinandersetzung, da anhand konkreter Beispiele die Vorteile des Sozialismus, aber auch die reale Situation in der kapitalistischen BRD auf lebenswichtigen Gebieten eindrucksvoll und beweiskräftig belegt werden. Diese Veröffentlichungen, die von ihnen als wirksames Argumentationsmaterial bewertet werden, seien zum richtigen Zeitpunkt erschienen.
In übergroßer Mehrheit bisher bekannt gewordener Meinungsäußerungen wird der Wunsch ehemaliger DDR-Bürger, in unsere Republik zurückzukehren, abgelehnt. Den veröffentlichten Begründungen derartiger Personen, erst jetzt durch eigenes Erleben den wahren Charakter des kapitalistischen Systems erkannt haben zu wollen, wird in der Regel kein Glauben geschenkt. Diese Personen hätten, so wird argumentiert, sich bewusst für ein Leben im anderen deutschen Staat entschieden und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR negiert. In nicht wenigen Fällen sei der DDR durch das Auftreten und Verhalten solcher Menschen großer politischer Schaden zugefügt worden.
In diesem Zusammenhang vertreten insbesondere einige Arbeitskollektive, in denen ehemalige DDR-Bürger tätig waren, die Auffassung, die DDR solle konsequent bleiben und keine Zugeständnisse machen. Einer Rückkehr solcher Personen sei keinesfalls zuzustimmen.
Progressive Bürger, darunter Arbeiter, Angestellte und Angehörige der Intelligenz, stellten in Diskussionen wiederholt die Frage, warum die DDR nicht auf ihrer am 5. April 1984 verkündeten Sprechererklärung beharre, in das NSA übergesiedelten Personen die Rückkehr in unsere Republik nicht mehr zu ermöglichen.2
Bei allem Verständnis für die jetzt getroffene Entscheidung sollte nicht immer so schnell »Nie« gesagt werden.
Mit der Genehmigung der Wiederaufnahme auch nur eines Teils der »Ehemaligen« mache sich unsere Partei- und Staatsführung in gewissem Maße unglaubwürdig.
Wiederholt werden in Meinungsäußerungen solche Auffassungen vertreten wie:
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Wenn diese ehemaligen DDR-Bürger wieder zurückkommen dürfen, widerspreche das dem von der Partei zuvor vertretenen Standpunkt.
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Sollte es zu einer Wiederaufnahme solcher Personen kommen, sei unsere Politik nur schwer zu verstehen.
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Handelt es sich hierbei um ein Zurückweichen von der bisherigen konsequent verfolgten Linie?
Unter breiten Teilen der Bevölkerung, darunter Arbeiter volkseigener Betriebe, Angestellte staatlicher Organe und Einrichtungen, Angehörige der technischen, medizinischen und pädagogischen Intelligenz, wird gefordert, bei der Prüfung von Anträgen auf Rückkehr in die DDR mit äußerster Sorgfalt und Differenziertheit heranzugehen.
Allgemein wird die Auffassung vertreten, vor allem lebenserfahrenen gebildeten Menschen die Wiederaufnahme nicht zu ermöglichen. Diese hätten die für sie möglichen Konsequenzen einer Übersiedlung überschauen und einschätzen können. Auch nach ihrer Rückkehr bleibe, so wird hervorgehoben, ihre politische Einstellung unverändert. Sie hätten ihren Schritt mit vollem Bewusstsein getan, obwohl ihnen in vielfältiger Form und oft mit großem Aufwand die Perspektivlosigkeit eines Lebens in der BRD bzw. in Westberlin aufgezeigt wurde.
Bei jüngeren Personen sei in Rechnung zu stellen, dass sie insbesondere durch den Empfang westlicher Massenmedien mehr oder weniger leicht im gegnerischen Sinne zu beeinflussen seien und damit ein falsches Bild über ein Leben in der BRD bzw. in Westberlin erhielten. Daher müsse zwischen Irregeleiteten und solchen Menschen unterschieden werden, die aus egoistischen Gründen heraus das für sie persönlich Angenehmste auswählen wollen.
Diesbezüglich wird argumentiert,
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ein »Wandel zwischen zwei Welten« dürfe nicht zugelassen werden,
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die Staatsbürgerschaft könne man nicht wechseln »wie das Hemd«.
In allen Meinungsäußerungen wird jedoch die vorrangige Behandlung von Anträgen von Familien mit Kindern begrüßt. Eine Rückkehr von Personen, die aus feindlicher Einstellung heraus unseren Staat verlassen haben bzw. als asozial und arbeitsscheu3 bekannt waren, wird grundsätzlich abgelehnt. Auf solche Personen könne, so wird weiter der Standpunkt vertreten, die DDR verzichten.
Wiederholt wird in diesem Zusammenhang geäußert, einige der ehemaligen DDR-Bürger könnten durch feindliche Stellen dazu missbraucht werden, unserem Staat nach ihrer Rückkehr Schaden zuzufügen, wobei vor allem auf von den imperialistischen Geheimdiensten angeworbene Personen hingewiesen wurde.
In immer größerem Maße bringen vor allem Werktätige aus der materiellen Produktion Befürchtungen dahingehend zum Ausdruck, dass mit einer möglichen Wiederaufnahme von ehemaligen DDR-Bürgern in Größenordnungen Nachteile für viele ehrlich zum Staat stehende Bürger erwachsen könnten. Es wird befürchtet, dass diesen Rückkehrern bevorzugt Wohnraum zur Verfügung gestellt und vielfältige Unterstützung in sozialpolitischen Fragen gewährt würde.
Derartige Meinungsäußerungen beinhalten:
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Eine Wiedereingliederung gehe zulasten der Bevölkerung, da sie sofort Wohnungen und Kredite erhalten müssten.
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Diese Personen würden versuchen, für sich das Beste »herauszuholen«.
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Möglicherweise müssen Bürger, die ihrem Staat treu geblieben sind, wieder länger auf eine Wohnung warten, nur weil Verräter zurückwollen.
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Die »Ehemaligen« würden zusätzlich Sozialleistungen wie medizinische Betreuung, Kindergarten- und Kinderkrippenplätze in Anspruch nehmen, für die sie keinen Beitrag geleistet haben.
Darüber hinaus wird gefordert, solche ehemaligen DDR-Bürger, sollte ihrem Antrag entsprochen werden, nicht mit »offenen Armen« zu empfangen. Sie sollten erst einmal beweisen, ob sie wirklich gewillt sind, in unserem Staat ehrlich zu leben und zu arbeiten.
Oftmals wird auch von Bürgern unterschiedlichster Bevölkerungskreise verlangt, solche »Ehemaligen« in der Öffentlichkeit auftreten zu lassen, wo sie eindeutig zu den Motiven ihrer Rückkehr und zu ihren in der BRD oder in Westberlin gemachten Erfahrungen Stellung nehmen müssten.
Außerdem sollten die Massenmedien der DDR anhand weiterer konkreter Beispiele die DDR-Bürger noch umfassender und tiefgründiger mit den realen Verhältnissen in der BRD vertraut machen.
Von Mitarbeitern der Abteilungen Innere Angelegenheiten und weiteren in den Prozess der Zurückdrängung der Übersiedlungsersuchen einbezogenen Personen wird in den eingeleiteten Maßnahmen in erster Linie eine politische Entscheidung gesehen. Daher betrachten sie die im ND gemachten Veröffentlichungen als wertvolle Unterstützung in ihrer täglichen Arbeit, bezweifeln jedoch in Einzelfällen eine nachhaltige Wirkung unter den Übersiedlungsersuchenden.
Unter Übersiedlungsersuchenden ist nach vorliegenden Hinweisen festzustellen, dass sie sich verstärkt an den Sendungen westlicher Funkmedien orientieren und eine abwartende Haltung beziehen.
Sie zweifeln vor allem den Wahrheitsgehalt der erfolgten Veröffentlichungen an, besonders die Zahlenangaben der um Rückkehr in die DDR bemühten »Ehemaligen«, und sind der Auffassung, dieses sei lediglich »Zweckpropaganda«. Die Mehrzahl der sich dazu äußernden Übersiedlungsersuchenden lässt erkennen, dass sie an ihrem Vorhaben festhalten wolle.
Typische Meinungsäußerungen sind:
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Diese Veröffentlichungen seien ein »Propagandatrick«.
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Mit diesen Artikeln werde auch nicht erreicht, unsere Übersiedlungsersuchen zurückzunehmen.
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Wer etwas kann, habe auch in der BRD oder in Westberlin seine gesicherte Perspektive.
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Von sozialer Unsicherheit wären nur die betroffen, die nicht ernsthaft arbeiten wollen.
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Es liege an jedem selbst, seine Existenz aufzubauen. Das Schicksal dieser 20 000 sei auf eigene Unfähigkeit zurückzuführen und träfe für sie nicht zu.
Darüber hinaus wird vereinzelt die Auffassung vertreten, dass bei einer Wiederaufnahme von ehemaligen DDR-Bürgern auch für sie bei keiner guten Existenzgrundlage in der BRD die Möglichkeit der Rückkehr bestünde. Es sei ihrer Meinung nach mit einer Stagnation neuer Antragstellungen zu rechnen, wodurch die eigenen Chancen für die Genehmigung einer Übersiedlung steigen würden.
Nur in Einzelfällen wurde bisher eine Verunsicherung der Übersiedlungsersuchenden bekannt, indem sie sich aufgrund der vielen Rückkehrwilligen ihren Schritt nochmals überlegen wollen.
In Einzelmeinungen unter politisch labilen und negativen Kräften kommt zum Ausdruck, die in den Massenmedien veröffentlichten Beispiele und Stellungnahmen seien eine »zielgerichtete Provokation« der DDR, um die Übersiedlungsersuchenden zur Rücknahme ihrer Ersuchen zu bewegen.
Ein dem MfS namentlich bekannter Exponent politischer Untergrundtätigkeit bezeichnete die im ND abgedruckten Wünsche ehemaliger DDR-Bürger nach Rückkehr in unsere Republik als »gestellte« Veröffentlichungen, die eine »alte stalinistische Tradition« seien und in zweierlei Richtung wirke:
Einerseits solle die »Ausreisebereitschaft« herabgesetzt und andererseits den DDR-Bürgern Argumente gegeben werden, um gegen Übersiedlungsersuchende vorzugehen. Er äußerte weiter, diese Stellungnahmen und Anträge stellten eine »stalinistische Machtpolitik« im Sinne von notwendigem Zwang zum Guten dar, was in der DDR einer »Einschränkung von Reise- und Nachrichtenfreiheit« gleichkomme.