Reaktion der Bevölkerung zu Versorgungsfragen (2)
29. April 1985
Hinweise über aktuelle Reaktionen der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit Versorgungsfragen [O/141]
Nach vorliegenden Hinweisen aus den Bezirken der DDR nehmen die Diskussionen unter allen Teilen der Bevölkerung zu Problemen des Handels und der Versorgung nach wie vor breiten Raum ein. Umfang und Intensität steigen in der Regel bei bevorstehenden Feiertagen (Ostern) oder aus anderen Anlässen – so z. B. im Zusammenhang mit den Jugendweiheveranstaltungen1 – wesentlich. Verstärkt sind Meinungsäußerungen zu Versorgungsfragen auch bei periodischen Mitteilungen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik zu Ergebnissen der volkswirtschaftlichen Entwicklung in der DDR festzustellen.
Obwohl von der Mehrheit der sich zu diesem Problemen äußernden Personen die erreichten Ergebnisse in allen Bereichen der Volkswirtschaft und das überwiegend stabile Angebot an Grundnahrungsmitteln anerkannt und gewürdigt werden, zeichnet sich eine Tendenz wachsenden Unverständnisses hinsichtlich ständig wiederkehrender Probleme und Schwierigkeiten bei der bedarfs- und sortimentsgerechten Versorgung der Bevölkerung ab. In diesem Zusammenhang wird häufig darauf verwiesen, dass sich die Tagungen des ZK der SED zwar kontinuierlich mit solchen Fragen beschäftigen und auch konkrete Aufgaben stellen, jedoch seien, so wird argumentiert, für den Einzelnen keine sichtbaren Fortschritte auf diesem Gebiet erkennbar. Dabei wird zugleich eine gewisse Unduldsamkeit und Unzufriedenheit in den Meinungsäußerungen ersichtlich.
Die sich häufenden kritischen Meinungsäußerungen beziehen sich auch weiterhin vorwiegend auf das Angebot an Industriewaren und Konsumgütern, wie
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modische Damen- und Herrenoberbekleidung,
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Konfektionsware für Kinder und Jugendliche, insbesondere preisgünstige Jugendweihebekleidung,
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Schuhwaren – einschließlich Kinderschuhen und Sportschuhen aus Leder,
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Arbeitsschutzbekleidung (vorwiegend Arbeitsschutzmäntel und -anzüge für die Landwirtschaft),
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Haushaltsgeräte, besonders Kaffeemaschinen, elektrische Allesschneider, Gefrierschränke,
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Baumaterialien, darunter Glas und Installationsmaterial.
Auf heftige Kritik stößt die unzureichende Bereitstellung von Ersatzteilen, vor allem für Pkw und Fahrräder. Das wiederholt und zunehmend von Kundendiensteinrichtungen benutzte »Argument«, man solle sich fehlende Ersatzteile selbst beschaffen, wird entschieden abgelehnt.
Zahlreiche Bürger verweisen immer wieder darauf, dass durch solche »Mangelwaren« unvertretbar hohe Wartezeiten bei notwendig gewordenen Reparaturen entstünden.
(Analoge Diskussionen zur Ersatzteilproblematik wurden von mittleren leitenden Kadern landwirtschaftlicher Betriebe und Genossenschaften, insbesondere aus den Bezirken Cottbus, Magdeburg und Schwerin bekannt. Sie verweisen u. a. auf seit Langem bestehende Schwierigkeiten bei der Ersatzteilbereitstellung für Traktoren unterschiedlichster Typen und Bodenbearbeitungsgeräte und machen darauf aufmerksam, dass durch diese Situation vielfältige Arbeitsinitiativen sowie eingegangene Verpflichtungen zur Steigerung der Produktion erheblich behindert und in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt würden.)
Bei allen derartigen Diskussionen wird betont, viele Mängel seien den verantwortlichen Organen seit Jahren bekannt, doch habe sich kaum etwas verändert. Als Ursachen dafür werden genannt,
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verantwortliche Funktionäre würden auf diese Situation falsch bzw. zu langsam reagieren,
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das Netz der »normalen« Handelseinrichtungen habe den gestiegenen Anforderungen nicht Schritt gehalten,
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die vorhandenen territorialen Möglichkeiten würden oftmals ungenügend ausgeschöpft.
Darüber hinaus wird bemängelt, dass sich die Produktion nicht genügend auf die Kundenwünsche einstelle.
Nach wie vor ist die Tendenz anhaltend, wonach Bürger aller Schichten die wirtschaftlichen Erfolge der DDR vorwiegend an der Stabilität der Preise und an Umfang und Qualität des Warenangebotes messen. So wird z. B. nicht verstanden, dass es der Jahreszeit entsprechend immer wieder Probleme bei der Bereitstellung von Obst und Gemüse gibt. Unter Verweis auf gute Handelsbeziehungen zu solchen Ländern, die traditionelle Erzeuger solcher Produkte sind, müsste, vorliegenden Meinungsäußerungen zufolge, ausreichend mit Frühgemüse und Südfrüchten versorgt werden können.
Im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen über weitere Steigerungsraten in der Konsumgüterproduktion bekannt gewordene Diskussionen beinhalten,
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die realisierten Steigerungsraten müssten sich im Einzelhandelsangebot widerspiegeln und nicht nur im Exportvolumen,
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Widersprüche zwischen den in den Medien berichteten Produktionserhöhungen und der tatsächlich angetroffenen Situation in den Verkaufseinrichtungen würden immer deutlicher,
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weiterentwickelte bzw. technisch hochwertige, neue Konsumgüter wären zu teuer.
Solche Auffassungen, verbunden mit zum Teil abwertenden Äußerungen vorwiegend zur Qualität der Erzeugnisse, werden vor allem von werktätigen Frauen vertreten. Erwähnung finden dabei besonders solche Waren wie Schuhe, Untertrikotagen und modische Textilien. Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass offensichtlich unlautere Handelspraktiken, wie der »Verkauf unter dem Ladentisch« sowie Spekulantentum ansteigen würden.
An Umfang und Intensität gleichbleibend sind kritische Meinungsäußerungen zur Erweiterung des Delikat- und Exquisit-Programms2 sowie dessen vergrößerter Sortimentsbreite. Solche bekannt gewordenen Argumente, wie
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vieles, was in Delikat- und Exquisit-Läden verkauft wird, wäre zuvor in »normalen« Verkaufseinrichtungen weitaus billiger angeboten worden,
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die Warendecke in den herkömmlichen Geschäften werde immer dünner,
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die ersatzlose Übernahme auch von Nahrungs- und Genussmitteln in das Delikat-Programm käme einer Preiserhöhung gleich,
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das Delikat-Programm erhalte immer mehr die Dominanz gegenüber dem Angebot in »normalen« Läden,
werden zum Teil mit politisch abwertenden Äußerungen verbunden.
So wird z. B. behauptet:
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Die heutigen Preise in Delikat- und Exquisit-Läden werden die gängigen Preise von morgen sein.
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Die Parteiführung der DDR teste, wie die Bevölkerung auf »einschneidende Maßnahmen« reagiere.
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Alles »Brauchbare« würde im Delikat-Laden verkauft, während der »Abfall« in den anderen Geschäften angeboten werde, was für den Arbeiter gerade noch gut genug sei.
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Bekleidung, Schuhe und Möbel entwickelten sich zu »Luxusartikeln«, die sich der einfache Arbeiter nicht mehr leisten könne.
Außerdem wird die Auffassung vertreten, bei der Einführung der ersten Delikat- und Exquisit-Geschäfte in der DDR seien wirklich ausgewählte Importe bzw. Spezialitäten der DDR-Produktion im Angebot gewesen. Jetzt gewinne man den Eindruck, dass diese Verkaufseinrichtungen genutzt würden, um Preiserhöhungen für »normale Erzeugnisse« nach außen hin zu verschleiern.
Daraus wird abgeleitet, Löhne und Gehälter stimmten mit den Preisen nicht mehr überein und das Lebensniveau breitester Bevölkerungskreise sinke. »Normalverdiener« könnten sich beim Einkauf nur noch auf Waren minderer Qualität orientieren.
Diesbezügliche Diskussionen werden ständig in Arbeitskollektiven in allen gesellschaftlichen Bereichen geführt.
(Es liegen Hinweise darüber vor, dass derartige Auffassungen zur Preispolitik und zu einem angeblich sinkenden Lebensniveau in der DDR auch fortgesetzt Bestandteil von Gesprächen zwischen Bürgern der DDR und der BRD bzw. Westberlins sind.)
Äußerungen von Familienangehörigen mit mehreren Kindern beinhalten unter Bezugnahme auf spürbare Verteuerungen in den Sortimenten der Kinderbekleidung, diese Preispolitik wirke sich nachteilig auf ihre finanzielle Lage aus.
Vereinzelt wurde die Schlussfolgerung gezogen, die Wirksamkeit der sozialpolitischen Maßnahmen werde durch diese Preisgestaltung wieder eingeschränkt.
Anhaltend sind Diskussionen, in denen Missfallen darüber geäußert wird, rekonstruierte gastronomische Einrichtungen in höhere Preisklassen einzustufen und damit die Anzahl von Gaststätten niederer Preisklassen ohne Beachtung der örtlichen Gegebenheiten zu reduzieren. Dies gelte besonders für Kreisstädte.
Vorliegenden Hinweisen zufolge hat der Bau bzw. die Eröffnung neuer Intershop-Verkaufseinrichtungen3 in mehreren Bezirks- und Kreisstädten insbesondere unter den Anwohnern solcher Objekte weiterhin kritische Meinungsäußerungen hervorgerufen. Dabei wenden sich Bürger, darunter Mitglieder der Partei, vor allem gegen derartige Vorhaben inmitten von Wohngebieten, da dort häufig noch Mangel an normalen Verkaufseinrichtungen herrsche. Außerdem befürchten sie negative ideologische Auswirkungen. Es wird argumentiert,
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vor allem in Neubaugebieten reiche das vorhandene Verkaufsstellennetz nicht aus, aber neue Intershops würden gebaut,
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die dafür aufgewandten Kapazitäten und Mittel sollten besser allen Bürgern zugutekommen,
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man schaffe ein »Land mit zwei Währungen« und »privilegierte« Schichten,
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Personen mit einer »sauberen Kaderakte«4 seien durch das Vorhandensein solcher Verkaufseinrichtungen benachteiligt.