Reaktion der Bevölkerung zum Treffen Honecker– Willy Brandt
23. September 1985
Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das Treffen des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, mit dem Vorsitzenden der SPD, Willy Brandt [O/149]
Hinweisen aus der Mehrzahl der Bezirke, einschließlich der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge, hat der Besuch des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt1 unter breiten Teilen der Bevölkerung Interesse gefunden, ohne jedoch im Mittelpunkt der Diskussion zu stehen.2
Der Besuch wird eingeordnet in die Gesamtheit der Aktivitäten der Partei- und Staatsführung der DDR, den Prozess der Entspannung zu fördern und zur Erhaltung und Festigung des Friedens aktiv beizutragen.
Vor allem progressive und politisch engagierte Personen aus allen gesellschaftlichen Bereichen werteten das Zustandekommen des Meinungsaustausches auf höchster parteipolitischer Ebene als konsequente Fortsetzung der Dialogpolitik insbesondere der SED. Die Einladung des Vorsitzenden der SPD durch die SED sei ein weiterer Beweis für die Bemühungen von Partei und Regierung der DDR, ständig nach Möglichkeiten zu suchen, mit führenden Repräsentanten von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung – so auch der BRD – im Gespräch und damit in der politischen Offensive zu bleiben.
Mit Genugtuung wurde deshalb von breiten Schichten der Bevölkerung der DDR der im Ergebnis der Gespräche beiderseitig erklärte Standpunkt aufgenommen, dass vom Verhältnis beider deutscher Staaten zueinander keine zusätzlichen Belastungen für die Lage in Europa ausgehen dürfen.
In diesem Zusammenhang, so wurde argumentiert, könnten gerade offizielle Kontakte zwischen beiden souveränen Staaten trotz bestehender Unterschiede in grundsätzlichen und ideologischen Positionen von entscheidender Bedeutung in der weiteren Gestaltung der gesamten Ost-West-Beziehungen sein.
Grundtenor der Meinungsäußerungen bildeten solche Aussagen wie:
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Diese Begegnung diene der Verbesserung des beiderseitigen politischen Klimas.
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Solche Gespräche können gerade in der gegenwärtig angespannten internationalen Lage sehr nützlich sein.
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Der Besuch Willy Brandts zeuge von der Ausstrahlungskraft der Politik der SED auf Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung.
Bürger verschiedenster Bevölkerungskreise, darunter Arbeiter und Mitglieder von Blockparteien, ordneten den Besuch des SPD-Vorsitzenden in der DDR auch in den Prozess des langfristig geführten Wahlkampfes in der BRD ein. Ihrer Auffassung nach würden die wiederholten Kontakte von Spitzenpolitikern der SPD zur DDR und der gegenwärtige Besuch von Brandt mit dazu beitragen, die Position der SPD insgesamt zu stärken. In diesem Zusammenhang wurde wiederholt zum Ausdruck gebracht, die SPD übe derzeit keinen entscheidenden Einfluss auf die Politik der Regierung Kohl3 aus und sei nur Oppositionspartei. Deshalb dürfe man, so wurde geschlussfolgert, keine überhöhten Erwartungen an die Ergebnisse des Besuches von Brandt in der DDR stellen.
Mitglieder der SED und andere progressiv eingestellte Personen verwiesen jedoch wiederholt auf den gemeinsamen Vorschlag von SED und SPD zur Schaffung einer von chemischen Waffenfreien Zone in Europa; dieser Vorschlag spräche ihrer Meinung nach viele Wähler in der BRD an.4 Damit bestehe die Hoffnung, dass gerade im Ergebnis des Treffens Gen. Honecker5 – Brandt die Friedenskräfte in der BRD weiter in ihren Anstrengungen bestärkt werden, um der neuen Eskalation des Wettrüstens entgegenzuwirken.
Es dürfe aber dennoch, so wird weiter argumentiert, nicht in Vergessenheit geraten, dass die SPD eine große Verantwortung für das Zustandekommen der Stationierung von amerikanischen Raketen in der BRD getragen habe.
Politisch interessierte Bürger werteten die vielfältigen außenpolitischen Aktivitäten der Partei- und Staatsführung der DDR, wie den Brief des Genossen Honecker an Bundeskanzler Kohl,6 die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Otto Wolff von Amerongen7 und den Besuch des SPD-Vorsitzenden selbst in ihrem Zusammenhang und mit dem Ziel, letztendlich die CDU geführte BRD-Regierung in »politischen Zugzwang« zu bringen und sie Farbe bekennen zu lassen.
Die beim Treffen von Genossen Erich Honecker und Willy Brandt erörterten humanitären Fragen, wie zum Reise- und Besucherverkehr sowie zur Milderung von Härtefällen, haben vielfältige Spekulationen und Erwartungshaltungen ausgelöst.
Insbesondere Personen mit verwandtschaftlichen Verbindungen und Kontakten in die BRD erhoffen sich weitere Reiseerleichterungen durch eine Herabsetzung des Reisealters bzw. eine Erweiterung der Reisemöglichkeiten auf Verwandte zweiten Grades. Darüber hinaus gibt es Meinungsäußerungen über eine mögliche Erweiterung auf dem Gebiet des Reise- und Touristenverkehrs nach der BRD dahingehend, dass auch Reisemöglichkeiten ohne verwandtschaftliche Beziehungen weiter ausgeschöpft werden.
In Einzelfällen wurde darauf verwiesen, bisherige Verhandlungen hätten immer nur Erleichterungen für BRD-Bürger gebracht. Es sei an der Zeit, auch einmal etwas für die DDR-Bevölkerung zu tun.
Darüber hinaus griffen einzelne Bürger in diesem Zusammenhang das Problem der »Ehemaligen« auf und unterstellten, mit diesen Veröffentlichungen nur Propaganda betrieben zu haben.8
Unter Übersiedlungsersuchenden wurden teilweise erneut Hoffnungen für eine baldige Realisierung ihrer gestellten Anträge geweckt; es werden großzügigere und schnellere Entscheidungen in ihrem Sinne erwartet.
Diesbezüglich brachten derartige Personen aus dem Bezirk Halle zum Ausdruck, dass nur geduldiges und diszipliniertes Warten zum Erfolg führe. Sie spekulieren darauf, bis zum XI. Parteitag der SED9 ihr Problem »ausgestanden« zu haben.