Reaktion zu den Beratungen des ZK mit den SED-Kreisleitungen
18. Februar 1985
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen [O/137]
Nach vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR findet die Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen in den Meinungsäußerungen der Bevölkerung zunehmende Beachtung.1
Besonders progressive Bürger bewerten die Ausführungen des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker,2 als eine reale Einschätzung der gegenwärtigen internationalen Klassenkampfsituation und als grundlegende Orientierung für die weitere Arbeit der Partei auf außen- und innenpolitischem Gebiet.
In überwiegend zustimmenden Meinungsäußerungen werden vor allem die Bemühungen der DDR und der anderen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft im festen Bruderbund mit der UdSSR hervorgehoben, den Frieden zu sichern und einen Weg zur Rückkehr zur Entspannung zu finden.3 Dieses sei, auch nach Auffassung von Funktionären befreundeter Parteien sowie kirchlich gebundener Personenkreise die wichtigste Aufgabe.
Mit Besorgnis wird in diesem Zusammenhang die gegenwärtige Entwicklung in der BRD aufgenommen und das Wiederaufleben des Revanchismus konsequent verurteilt.
Politisch interessierte Bürger argumentieren,
- –
durch die Politik der Bundesregierung würden die Revanchisten immer mehr »Oberwasser« bekommen;
- –
mit der angekündigten Teilnahme des Bundeskanzlers Kohl4 am »Schlesiertreffen«5 seien die revanchistischen Gebietsansprüche zur offiziellen Staatspolitik der BRD erklärt worden;
- –
die Forderungen in der BRD nach Verschiebung der Grenzen zielten darauf ab, die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandene Lage in Europa gewaltsam zu verändern;
- –
der Prozess der Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten würde damit immer weiter belastet werden.
Wiederholt wird in Meinungsäußerungen zum Ausdruck gebracht, die jetzige BRD-Regierung habe keine Lehren aus der Geschichte gezogen. Das widerspiegele sich insbesondere in ihrer Haltung zum 40. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes.
Vereinzelt wird von Arbeitern, Angestellten und selbstständigen Handwerkern aus den Darlegungen zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD die Schlussfolgerung abgeleitet, dass Genosse Honecker auch im Jahre 1985 der BRD keinen Besuch abstatten könne, da sich die Bedingungen dafür weiter verschlechtert hätten.
Darüber hinaus gehende Auffassungen beinhalten, die DDR soll in ihrer Politik gegenüber der BRD nicht mehr so tolerant sein und ihre Forderungen noch konsequenter stellen. Es wird argumentiert, die DDR habe es nicht nötig, vor der BRD den »Rücken zu krümmen«; unsere Devisen könnten wir auch von anderen westlichen Ländern erwerben. Die Bundesregierung solle endlich in ihrer Politik von der realen Lage ausgehen und die Staatsbürgerschaft der DDR voll respektieren, da – so wird hervorgehoben, nur eine solche realitätsbezogene Haltung der Friedenssicherung in Europa dienlich sei.6
In einzelnen Meinungsäußerungen zur Lage in der BRD wird der Einfluss westlicher elektronischer Medien sichtbar. So wurden aus dem Bezirk Gera u. a. folgende »Argumente« bekannt:
- –
Bereits im vergangenen Jahr habe besonders die UdSSR die »Revanchistenfrage« immer wieder »hochgespielt«. Damit hätte die UdSSR den Besuch des Genossen Honecker in die BRD verhindert.7
- –
Der weitaus größere Teil der »Schlesier« wolle gar nicht »heim«, da es ihnen nirgends besser ginge als in der BRD.
- –
Die »Vertriebenen« hätten nach Auffassung des Bundeskanzle Kohl bereits 1950 auf Gewalt verzichtet. Man habe den Eindruck, dass einige in der BRD »hochgespielte« Vorgänge in das Konzept der DDR passten, um beispielsweise die Reise des Genossen Honecker in die BRD abzusagen.
- –
Die Forderungen der DDR auf volle Respektierung der Staatsbürgerschaft seien Kampagnen, die eine Einmischung in innere Angelegenheiten darstellten.
Bezogen auf Meinungsäußerungen zum innenpolitischen Teil der Ausführungen des Genossen Honecker ist eine wesentlich differenziertere Haltung festzustellen.
Genugtuung wird geäußert, dass die Partei auch in den kommenden Jahren am Kurs der Hauptaufgabe festhalten wird.8 Die im Jahre 1984 erreichten ökonomischen Ergebnisse und insbesondere die trotz steigender Weltmarktpreise stabil gehaltenen Preise für Erzeugnisse des Grundbedarfs finden weithin Anerkennung.
Analog zu getroffenen Feststellungen in Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED9 wird jedoch erneut in Meinungsäußerungen zahlreicher Werktätiger zum Ausdruck gebracht, das ökonomische Leistungswachstum wirke sich zu wenig für den Einzelnen aus.
Es sei unverständlich, weshalb noch vorhandene Mängel und Unzulänglichkeiten sowie deren Ursachen zu selten »beim Namen genannt« würden und nur »zwischen den Zeilen« herauszulesen wären. Damit entstünde der Eindruck, dass unsere Parteiführung nicht offensiv und schonungslos auf bestehende Missstände reagiere.
Werktätige des VEB Steinkohlenkokereien »August Bebel« Zwickau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt bezeichneten in diesem Zusammenhang die Veröffentlichungen der Rede des Genossen Honecker im »ND« als Schönfärberei, da bestehende Schwierigkeiten in der Volkswirtschaft nicht angesprochen wurden. Auch über solche Probleme wie das »Antragsgeschehen auf Übersiedlung« in das nichtsozialistische Ausland,10 die Preisentwicklung in der DDR und die Auswirkungen der Witterungsbedingungen auf die Volkswirtschaft sei nicht informiert worden.
In den Diskussionen wird wiederholt darauf verwiesen, die dargestellte volkswirtschaftliche Bilanz sei in der Regel zu einseitig auf Positives ausgerichtet und stimme nicht mit den täglichen Erfahrungen der Menschen überein.
Auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung wird das Warenangebot weiterhin als unzureichend und nicht den gestiegenen Bedürfnissen entsprechend eingeschätzt. In Diskussionen wird angeführt, es werde zwar ständig über die Steigerung der Konsumgüterproduktion berichtet, aber in den Verkaufseinrichtungen sei davon wenig festzustellen.
Diesbezüglich argumentieren Bürger:
- –
Es sei an der Zeit, dass endlich eine positive Veränderung geführt werde. Die Verbesserung des Konsumgüterangebotes für die Bevölkerung sei eine immer zwingendere Aufgabe.
- –
Von der Bevölkerung gefragte Artikel stünden nach wie vor nur unzureichend zu Verfügung bzw. seien nur in Delikat- oder Exquisit-Läden zu erhöhten Preisen erhältlich.11
Vor allem einkommensschwächere Personen treffen Feststellungen, wonach das Angebot immer mehr von Erzeugnissen der höheren Preisklassen bestimmt werde. Trotz sozialpolitischer Maßnahmen seien deshalb solche Waren nur für »Ausgewählte« bestimmt, und das Versorgungsniveau sinke.
In Auswertung der Rede vor den 1. Sekretären der Kreisleitungen werden aber auch Zweifel hinsichtlich der Realisierbarkeit angestrebter Ziele auf dem Gebiet der Volkswirtschaft geäußert. Insbesondere in enger Verbindung mit Erfahrungen aus dem eigenen Arbeitsbereich werden Fragen dahingehend aufgeworfen, ob zentral getroffene Entscheidungen in jedem Fall einen optimalen Erfolg sichern. So verweisen Wirtschaftskader und Angehörige ingenieur-technischen Personals mehrerer Potsdamer Betriebe und Einrichtungen darauf, dass die anhaltende Frostperiode erhebliche Mängel in der Winterbevorratung offenbart habe. Sie sehen die Ursachen in der Substitution von Heizöl sowie in der Kürzung der Kontingente von Steinkohle und Koks. Ihrer Auffassung nach könne das nicht durch den erhöhten Einsatz von Rohbraunkohle wettgemacht werden, zumal damit auch ein beträchtlicher Mehraufwand an Transportkapazität verbunden sei.12
Außerdem lasse die teilweise wiederum vorgenommene Umstellung auf Heizöl keine Kontinuität erkennen.
Darüber hinaus erklärten sie, es sei zwar einzusehen, dass die Deviseneinnahmen zu sichern sind; es müsse aber angezweifelt werden, ob das mit »unserem wichtigsten Rohstoff«, der Kohle, zu erfolgen habe.
Von Vorsitzenden und Bereichsleitern von LPG der Pflanzen- und Tierproduktion sowie mittleren leitenden Kadern der Abteilung Landwirtschaft in Räten der Kreise des Bezirkes Potsdam werden darüber hinaus die für 1985 eingegangenen Verpflichtungen zur Überbietung der im Jahre 1984 erreichten Hektarerträge teilweise als unreal angesehen und angezweifelt.
Diese Ergebnisse im vergangenen Jahr wären bei äußerst günstigen Witterungsbedingungen erzielt worden und dürften nicht als Maßstab gelten.
Teilweise werden von Werktätigen, darunter von Arbeitern und Angehörigen der medizinischen Intelligenz, Auffassungen vertreten, Genosse Honecker habe in seinem Referat vor den 1. Sekretären der Kreisleitungen wesentlich mehr gesagt, als veröffentlicht wurde.
Sie unterstellen,
- –
man könne anhand der Veröffentlichungen nur ahnen, mit welchen Problemen sich die Teilnehmer der Beratung tatsächlich befasst haben;
- –
es wäre interessanter zu erfahren, was nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde;
- –
das Wichtigste, was Genosse Honecker angesprochen habe, dürfe scheinbar nicht jeder wissen.
In diesem Zusammenhang wird vereinzelt spekuliert, dass möglicherweise angesprochene Mängel und Schwächen in der Führungstätigkeit der Partei, geübte Kritiken an einzelnen Funktionären und Führungskadern der Bevölkerung vorenthalten worden seien. Existierende Probleme bei der Entwicklung der Volkswirtschaft wären nicht veröffentlicht worden, um das positive Gesamtbild nicht zu beeinträchtigen.
Mehrfach wurde die Vermutung geäußert, in der Rede sei der Verteidigungspolitik der DDR breiter Raum gewidmet worden.
Weiter wird argumentiert, es hätte nicht geschadet, wenn, wie in der Sowjetunion, alle vorhandenen Probleme und noch nicht gelöste Aufgaben offen angesprochen worden wären. So aber würden sich viele Bürger über Hemmnisse in der DDR durch Sendungen westlicher Funkmedien »informieren« lassen. Ein solches Vorgehen sei kein Vertrauensbeweis der Partei gegenüber der Bevölkerung.
Darüber hinaus wurden vereinzelt abwertende Meinungsäußerungen bekannt. Sie reichen von der Feststellung, die Rede des Genossen Honecker gleiche entsprechenden Ausführungen auf der 9. Tagung [des ZK der SED], es mangele erneut an Konkretheit und die vorhandenen Probleme würden beschönigt, bis hin zu der Behauptung, das Referat enthalte nichts Neues.
Nachfolgend wird auf einige weitere beachtenswerte Diskussionen unter Teilen der Bevölkerung zu Fragen des Umweltschutzes aufmerksam gemacht, die nicht unmittelbar mit der Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen im Zusammenhang stehen.
Hinweisen aus mehreren Bezirken der DDR zufolge wurden in jüngster Zeit, vor allem maßgeblich initiiert durch Meldungen westlicher elektronischer Medien über ausgelöste »Smog-Alarme« in Westberlin und in Industriegebieten der BRD, Auffassungen vertreten, in der DDR werde zu wenig für den Umweltschutz getan. Teilweise wird den offiziellen Stellungnahmen der DDR zu den westlichen Verleumdungskampagnen im Zusammenhang mit angeblich von der DDR ausgehenden Schadstoffbelastungen im grenznahen Raum zur BRD zu Westberlin kein Glauben geschenkt.
Vorliegenden Hinweisen zufolge wird wiederholt die Frage gestellt, warum beispielsweise in der Hauptstadt der DDR, Berlin, nicht auch ein »Smog-Alarm« ausgerufen wurde und argumentiert:
- –
Die Schadstoffbelästigungen blieben nicht auf das Territorium von Westberlin beschränkt und gefährdeten unsere Bürger ebenso.
- –
Warum werden durch die zuständigen staatlichen Organe keine sofortigen Maßnahmen eingeleitet, wie Fahrverbot für Pkw oder Warnung älterer und kranker Menschen über die Massenmedien?
Analogen Meinungsäußerungen zufolge seien in verschiedenen Gebieten der DDR die Bürger »ständig dem Smog ausgesetzt«, nur habe die DDR gegenwärtig nicht die finanziellen Mittel, um Maßnahmen in entsprechendem Umfang verwirklichen zu können.
Daher, so wird vereinzelt in Diskussionen angeführt, passe ein »Smog-Alarm« nicht in unsere »sozialistische Umwelt«.
Weiterhin werden Auffassungen vertreten, wonach die von westlichen elektronischen Medien verbreiteten Argumente zur Umweltschutzproblematik »glaubhafter« seien, da die BRD »größere Erfahrungen« auf diesem Gebiet habe und »offener« in der Behandlung derartiger Fragen sei.