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Reaktion zum Tod Tschernenkos und zur Ernennung Gorbatschows

15. März 1985
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR zum Ableben des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Tschernenko, und zur Wahl des Genossen Gorbatschow in diese Funktion [O/139]

Hinweisen aus allen Bezirken, einschließlich der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge, wurde die Nachricht vom Ableben des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Genossen Konstantin Tschernenko,1 von der Mehrheit der Bevölkerung mit Betroffenheit und Anteilnahme aufgenommen.

In zahlreichen Meinungsäußerungen wird die Persönlichkeit des Genossen Tschernenko gewürdigt, wobei vor allem seine

  • Verdienste als führender Repräsentant des sowjetischen Staates,

  • außenpolitischen Aktivitäten zur Erhaltung des Friedens und zur Entspannung der internationalen Lage,

  • konsequente Haltung bei der Überwindung noch vorhandener innenpolitischer Probleme,

  • Bemühungen zum Zustandekommen der Genfer Verhandlungen zwischen der UdSSR und den USA2

hervorgehoben werden.

Politisch interessierte Bürger werten seine Leistungen als kontinuierliche Fortsetzung der Politik der KPdSU und der UdSSR unter Führung der Genossen Breshnew3 und Andropow.4

Darüber hinaus sei es ihrer Meinung nach vor allem auch dem Genossen Tschernenko zu verdanken, dass erkannte Mängel, Schwächen und Hemmnisse der inneren Entwicklung des Landes weiterhin konsequent und in aller Öffentlichkeit angesprochen sowie Wege zu ihrer Überwindung umfassend aufgezeigt wurden. Im Zusammenhang damit werden seine Zielstrebigkeit, Klarheit und Entschlossenheit gewürdigt.

Weiter kommt in den Meinungsäußerungen zum Ausdruck, dass mit dem Ableben des Genossen Tschernenko keine Änderung des außenpolitischen Kurses der UdSSR erfolge und dementsprechend die Gespräche in Genf wie vorgesehen durchgeführt werden.

Relativ häufig bringen Bürger zum Ausdruck, der Tod des Genossen Tschernenko komme für sie nicht überraschend. Dabei nehmen sie verbreitet Bezug auf den äußerlich sichtbaren schlechten Gesundheitszustand bei seinen letzten öffentlichen Auftritten.

In mehreren Bezirken trat teilweise Unverständnis darüber auf, warum über das Ableben in unseren Massenmedien erst relativ spät informiert wurde. Westliche elektronische Funkmedien hätten sich schon Stunden zuvor auf entsprechende Verlautbarungen aus Moskau berufen.

Vereinzelte Argumentationen dazu beinhalten, eine aktuelle Informierung zu bedeutsamen Problemen erfolge offensichtlich nur von den Westmedien.

Weiteren einzelnen Meinungsäußerungen zufolge wurde nach Bekanntgabe des ärztlichen Bulletins auch Unverständnis darüber geäußert, dass dem Genossen Tschernenko nach ebenfalls nur kurzem Wirken des Genossen Andropow in dieser Funktion eine solche verantwortungsvolle Aufgabe übertragen worden sei.

Die unverzügliche Wahl des Genossen Gorbatschow5 als Generalsekretär des ZK der KPdSU wurde überwiegend mit großer Zustimmung aufgenommen.

Insbesondere progressive Bürger bringen Genugtuung darüber zum Ausdruck, wonach im Verhältnis zu den anderen Mitgliedern der Parteiführung ein relativ junger Genosse mit dieser Funktion betraut wurde. Er sei in der Geschichte der KPdSU einer der jüngsten Generalsekretäre. Von ihm könne man erwarten, dass er über einen längeren Zeitraum die Politik der UdSSR entscheidend mitprägen werde. Er sei ein bewährter Genosse, der erfahrene und erprobte Funktionäre an seiner Seite habe. Ausgehend von dem im ZK der KPdSU erreichten hohen Stand der Kollektivität der Führung finde Genosse Gorbatschow beste Bedingungen vor, um den Leninschen Kurs der Außen- und Innenpolitik zielstrebig fortzusetzen.

Diesbezüglich wird davon ausgegangen, dass die auf Frieden, Verständigung und Abrüstung gerichtete Politik weitergeführt wird und berechenbar bleibt. Ein Beweis dafür, so wird weiter argumentiert, sei die Entscheidung des Genossen Gorbatschow, die Genfer Verhandlungen planmäßig zu beginnen und durchzuführen.

Bürger aller Bevölkerungsschichten sehen in der Wahl des Genossen Gorbatschow

  • einen würdigen Nachfolger, der die Kontinuität in der Politik der KPdSU gewährleiste und zur weiteren Festigung der sozialistischen Staatengemeinschaft beitragen werde,

  • neue Möglichkeiten, um durch einen dynamischen Führungsstil die außenpolitischen Aktivitäten zu verstärken,

  • einen Repräsentanten der UdSSR, der diesen Staat auch im Ausland vertreten und entscheidende Gespräche selbst führen könne.

Es wird weiter darauf verwiesen, dass seit dem Ableben des Genossen Breshnew kein Partei- und Regierungschef der UdSSR zu Verhandlungen im Ausland weilte. Ein ständiger Wechsel in der Führungsspitze bringe naturgemäß bestimmte Unsicherheiten in der Außenpolitik und ihrer Berechenbarkeit, für die innere Stabilität sowie für die Glaubwürdigkeit der verfolgten politischen Linie mit sich.

Mit der schnellen Wahl des neuen Generalsekretärs des ZK der KPdSU und der sofortigen Bekanntgabe sei nach Auffassung vor allem progressiver Bürger jeglichen Spekulationen der Boden entzogen worden. Eine solche Verfahrensweise ließe auch keine Zweifel offen und beweise, dass auch die KPdSU eine kontinuierliche Kaderpolitik betreibe.

Nur in Einzelfällen wurde Überraschung geäußert, dass dem Genossen Gorbatschow für seine neue Funktion uneingeschränkt das Vertrauen aller ZK-Mitglieder entgegengebracht wurde, obwohl er bedeutend jünger sei als die Mehrzahl der Politiker dieses Führungsorgans.

Aus einzelnen Bezirken liegen Hinweise vor, wonach von Teilen der Bevölkerung die im BRD-Fernsehen ausgestrahlten Sendebeiträge über den Besuch des Genossen Gorbatschow in Großbritannien aufmerksam verfolgt wurden.6 Sein ihrer Meinung nach »offenes und weltmännisches« Auftreten fand hierbei besondere Beachtung.

Dem MfS bekannte Personen mit politisch-negativer Grundeinstellung äußerten sich in Einzelfällen abwertend und diffamierend.

Derartige Einzelmeinungen beinhalten:

  • Die »Politik der alten Männer«, die die Oktoberrevolution miterlebt haben, sei endlich vorbei.

  • Die Führung der UdSSR habe aus den schlechten Erfahrungen mit der Wahl alter Kader gelernt.

  • Der neue Generalsekretär sei zwar völlig unbekannt, aber unter seiner Leitung bleibe das Abhängigkeitsverhältnis der DDR von der UdSSR erhalten.

  1. Zum nächsten Dokument Angeblich schikanöse Abfertigung an der GÜSt Zarrentin

    19. März 1985
    Information Nr. 106/85 über die angeblich schikanöse Abfertigung einer Bürgerin der BRD mit ihrer kranken Tochter an der Grenzübergangsstelle Zarrentin am 3. März 1985

  2. Zum vorherigen Dokument Veranstaltungen zum 500. Geburtstag des Reformators Bugenhagen

    15. März 1985
    Information Nr. 105/85 über Veranstaltungen der Evangelischen Kirchen in der DDR anlässlich des 500. Geburtstages des lutherischen Reformators Johannes Bugenhagen im Jahre 1985