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Reaktionen aus Berlin auf die Entmachtung Konrad Naumanns

10. Dezember 1985
Hinweise über beachtenswerte Reaktionen von Personenkreisen aus der Hauptstadt der DDR, Berlin, auf den Beschluss der 11. Tagung des ZK der SED über die Entbindung des Genossen Naumann von der Funktion eines Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK der SED [O/153]

Nach vorliegenden Hinweisen haben der Beschluss der 11. Tagung des ZK der SED1 und der SED-Bezirksleitung Berlin über die Entbindung des Genossen Naumann2 von seinen Parteifunktionen und die dafür gegebene Begründung unter allen Bevölkerungskreisen, insbesondere jedoch der Hauptstadt, intensive und nachhaltige Diskussionen ausgelöst.

Die überwiegende Mehrheit der sich dazu äußernden Personen stimmt der Entscheidung des Zentralkomitees und der Bezirksleitung Berlin uneingeschränkt zu.

Wiederholt wurde jedoch von in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen tätigen Personen unter Bezugnahme auf ihnen angeblich seit längerer Zeit bekannte Fehlverhaltensweisen des Genossen Naumann betont, man habe derartige Konsequenzen bereits wesentlich früher erwartet, sie seien »längst fällig« gewesen. In diesem Sinne treten besonders Kunst- und Kulturschaffende sowie journalistisch tätige Personen und kirchliche Amtsträger in Erscheinung. Sie begründen ihre in vielfältigsten Diskussionen geäußerte Befriedigung über diese Entscheidung vordergründig mit der angeblich durch Abneigung und Geringschätzung geprägten Einstellung des Genossen Naumann gegenüber Intellektuellen, hauptsächlich gegenüber Kulturschaffenden, und mit seinem »harten Kurs« gegenüber den Kirchen.

Im Gegensatz dazu brachten Werktätige aus einigen Berliner Betrieben und Dienstleistungseinrichtungen ihr Bedauern über die Ablösung des Genossen Naumann als 1. Sekretär der Bezirksleitung zum Ausdruck. Sie verwiesen dabei auf seine Verdienste bei der Entwicklung der Hauptstadt sowie auf sein volksverbundenes und politisch überzeugendes Auftreten in der Öffentlichkeit.

Nahezu einhellig wird unter allen Kreisen und Schichten der Bevölkerung die im Kommuniqué der 11. Tagung des ZK der SED enthaltene Begründung für die Funktionsentbindung des Genossen Naumann angezweifelt; teilweise wird sie offen abgelehnt. So argumentierten u. a. Beschäftigte der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn (BWF) und des Kombinates Stadtwirtschaft:

  • Das Verschweigen der »wahren Gründe« sei Ausdruck des mangelnden Vertrauens zu den einfachen Parteimitgliedern und zu den Werktätigen.

  • In Anbetracht der bisher von ihm ausgeübten Funktion in der Berliner Parteiorganisation und seiner Popularität könne diese Angelegenheit nicht parteiintern behandelt werden.

Vereinzelt wurde der »Verdacht« ausgesprochen, man wolle mit diesem Vorgehen verhindern, dass sich die Linie der KPdSU, Funktionäre für begangene Fehler öffentlich zur Verantwortung zu ziehen, auch in der DDR durchsetze.

Generell beinhalten die Diskussionen ein breites Spektrum von Spekulationen und Gerüchten über die Ursachen und Gründe für die Entbindung des Genossen Naumann von seinen Parteifunktionen wie

  • Intrigantentum, gerichtet gegen Mitglieder der Parteiführung,

  • Amtsmissbrauch, Herrschsüchtigkeit und Überheblichkeit,

  • Konfrontationskurs gegenüber Wissenschaftlern und Kulturschaffenden,

  • Kritik an der Kulturpolitik und an der Politik der Partei in Kirchenfragen,

  • Fehler in der Bündnispolitik,

  • Duldung ungelöster Probleme im Bereich der Volkswirtschaft der Hauptstadt,

  • falsche »Berlin-Politik«,

  • unmoralischer Lebenswandel.

Nachfolgend wird auf einige besonders beachtenswerte und überwiegend interne Meinungsäußerungen von Persönlichkeiten bzw. ausgewählten Personenkreisen aufmerksam gemacht:

Der Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR, Joachim Nowotny,3 äußerte, ihn verwundere die Ablösung des Genossen Naumann von seinen Funktionen in keiner Weise, da dessen »Kulturfeindlichkeit« vielen Künstlern bekannt sei. Er glaube, dass über diese Entscheidung die Berliner Künstler am meisten »jubeln«. Schlimmer als unter Naumann könne es nicht kommen. Er denke dabei nur an die Skandale an Berliner Bühnen um die abgesetzten Theaterstücke4 von Rainer Kerndl5 und Rudi Strahl.6

Jan Koplowitz,7 Schriftsteller, betonte, der Parteiführung sei nach dem Auftreten des Genossen Naumann an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften keine andere Wahl geblieben.8 Er verstehe jedoch nicht, wie ein Mann in dieser »Größenordnung« vor Wissenschaftlern die Bündnis-, Kultur- und Wissenschaftspolitik der Partei infrage stellen könne.

Die Professoren Kosing9 und Bisky,10 tätig an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften des ZK der SED erklärten, diese Entscheidung sei die einzige Alternative gewesen. Nach dem Auftritt des Genossen Naumann vor den Gesellschaftswissenschaftlern hätte der Eindruck entstehen müssen, im Politbüro des ZK der SED gebe es unterschiedliche Auffassungen in Grundfragen der Politik der Partei bzw. habe sich eine Fraktion gebildet.

Hochschullehrer der Humboldt-Universität, Sektion Marxismus/Leninismus, brachten zum Ausdruck, wohl kaum jemand werde dem Genossen Naumann nachtrauern. Sein Auftritt an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften habe das Maß zum Überlaufen gebracht.

Mitarbeiter der Redaktion der Zeitschrift »Sonntag« verwiesen auf die zwiespältige Haltung des Genossen Naumann gegenüber Wissenschaftlern und Künstlern, die ihn in diesen Kreisen »berühmt und berüchtigt« gemacht hätten. Außerdem verurteilten sie seinen unmoralischen Lebenswandel.

Als eine »längst überfällige Entscheidung« werteten Mitarbeiter des Fremdsprachendienstes »lntertext« den Beschluss der 11. Tagung des ZK der SED. Einsatzkräfte hätten bei Dolmetschereinsätzen mehrfach den Hang des Genossen Naumann zum übermäßigen Alkoholgenuss und sein damit im Zusammenhang stehendes ausfallendes und vulgäres Auftreten kennengelernt.

Schauspieler des Deutschen Theaters und Studenten der Staatlichen Schauspielschule beschuldigen den Genossen Naumann unter Hinweis auf angeblich ungerechtfertigt hohe finanzielle und materielle Zuwendungen für das »Theater im Palast« (Argument: Dies sei einmalig in der Geschichte des Theaterlebens der DDR) des Amtsmissbrauchs und Protektionismus.

Generalsuperintendent Krusche/Berlin11 äußerte intern, er sehe in der Abberufung des Genossen Naumann künftig auch etwas bessere Bedingungen für die Arbeit der Kirchen. Es sei in letzter Zeit offensichtlich geworden, dass Vertreter des Magistrats bei Verhandlungen über den für das Jahr 1987 geplanten Kirchentag der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg mit den »Augen gezwinkert« hätten, um damit anzudeuten, »warten Sie noch etwas, im Moment geht es noch nicht, aber bald wird dieses oder jenes möglich sein.«

Mitarbeiter des Evangelischen Diakoniewerkes Königin-Elisabeth/Berlin vertraten die Auffassung, entgegen besseren Wissens werde versucht, »die DDR-Bevölkerung wieder einmal hinters Licht zu führen«. Alle bisherigen Abberufungen hätten sich später als »Zweckpropaganda« erwiesen.

Die hinlänglich bekannten Exponenten politischer Untergrundtätigkeit Bärbel Bohley12 und Pfarrer Eppelmann13 äußerten intern übereinstimmend, die Ablösung der Genossen Naumann und Häber14 sei Ausdruck »bestehender Machtkämpfe« in der DDR-Führungsspitze. Eppelmann behauptete u. a., im Politbüro des ZK der SED habe es im September 1985 Auseinandersetzungen um die »lasche Kirchenpolitik« des Generalsekretärs des ZK der SED gegeben. Die Entbindung des Genossen Häber von seiner Funktion brachte die B. Bohley mit »möglichen Änderungen in der Außenpolitik der DDR gegenüber der BRD« in Zusammenhang.

Die Leiter einiger Bezirksverwaltungen informierten die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen im Zusammenhang mit Berichten zur Reaktion der Bevölkerung im Verantwortungsbereich über die 11. Tagung des ZK der SED auch über Diskussionen bezüglich der Entbindung der Genossen Naumann und Häber von ihren Funktionen.

Nach streng internen Hinweisen erfolgt durch die Botschaft der VR Polen in der DDR eine gründliche Analyse der Materialien der 11. Tagung des ZK der SED.

Von besonderem Interesse seien dabei nach Aussagen des Botschaftsrates Mieczysław Szymański15 Erkenntnisse über die Hintergründe und die Art und Weise der Ablösung des Genossen Naumann von seinen Funktionen. Es gehe dabei um solche Fragen wie:

  • Welche Vorwürfe wurden gegen ihn erhoben?

  • Strebte er in einigen Fragen eine andere politische Linie als Genosse Honecker16 an bzw. war er aus auf die Funktion des Generalsekretärs der Partei?

  • Nahm er an der 11. Tagung des ZK der SED und an der Sitzung der Bezirksleitung Berlin teil und hatte er dort die Möglichkeit, zu den Vorwürfen persönlich Rede und Antwort zu stehen?

Nach Auffassung des Genossen Szymański sei die Beantwortung dieser Fragen bedeutsam, weil daraus die politische Interpretation sowohl der Ablösung des Genossen Naumann als auch der Haupttendenzen der Kaderentwicklung in der Führungsspitze der SED bis zum XI. Parteitag ablesbar seien. Gleichfalls ergebe sich daraus eine Antwort nach dem »Demokratieverständnis« in der SED.

  1. Zum nächsten Dokument Einnahmen Mindestumtausch, 2.–8.12.1985

    11. Dezember 1985
    Information Nr. 498/85 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 2. Dezember 1985 bis 8. Dezember 1985

  2. Zum vorherigen Dokument Einnahmen Mindestumtausch, 25.11.–1.12.1985

    4. Dezember 1985
    Information Nr. 489/85 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 25. November 1985 bis 1. Dezember 1985