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Reaktionen der Bevölkerung auf den Überläufer Tiedge (1)

27. August 1985
Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das Asylersuchen des ehemaligen Regierungsdirektors im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfVS) der BRD, Tiedge, und Veröffentlichungen zu Festnahmen von BRD-Spionen [O/148]

Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken, einschließlich der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge, haben die Veröffentlichungen über das Asylersuchen des langjährig im BfVS der BRD für die Spionageabwehr verantwortlich gewesenen Regierungsdirektors Tiedge1 sowie über die Festnahmen von BRD-Spionen in der DDR Aufmerksamkeit und Interesse hervorgerufen.2

Vor allem progressive und politisch interessierte Bürger werten den Übertritt Tiedges und die hohe Zahl der festgenommenen Spione auf dem Territorium der DDR als bedeutenden Schlag gegen den Spionagedienst der BRD.

Damit sei, so wird weiter argumentiert, durch das MfS ein bedeutsamer Beitrag zur Gewährleistung der Sicherheit und des Schutzes der DDR geleistet worden, der eingeordnet werden müsse in die ständigen Bemühungen unseres Staates zur Erhaltung und Festigung des Friedens.

Gleichzeitig wird Erstaunen darüber geäußert, dass es dem MfS gelungen ist, so tief in ein Machtzentrum des westdeutschen Staates einzudringen.

In der Mehrheit vorliegender Meinungsäußerungen wird zum Ausdruck gebracht, Tiedge und auch der ehemalige Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter der BRD, Grunert,3 seien langjährige Kundschafter des MfS, die nach Erfüllung ihres Auftrages bzw. aus Sicherheitsgründen zurückgezogen worden seien.

Ähnliche Auffassungen werden zu den Personen Lüneburg4 und Richter5 vertreten.

Charakteristische Argumente zur Würdigung der Leistungen des MfS und seiner Patrioten sind:

  • »Es ist erstaunlich, wo das MfS überall seine Leute hat.

  • Die Staatssicherheit verstehe es offensichtlich sehr geschickt, ihre Aufgaben wahrzunehmen.

  • Sicherlich bedarf es großer Anstrengungen, um in derartige Positionen eindringen zu können; darum verdiene diese Leistung größte Hochachtung.«

In diesem Zusammenhang wurde wiederholt die Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass noch weitere Informationen, insbesondere Details zur Kundschaftertätigkeit,6 in den Massenmedien veröffentlicht werden, um – so wird weiter argumentiert – allen Bürgern der DDR noch deutlicher die friedensgefährdende Politik vor allem führender reaktionärer Kreise der BRD aufzuzeigen. Außerdem wird im Ergebnis des Asylersuchens mit weiteren Schlägen gegen Spione westlicher Geheimdienste gerechnet.

In zahlreichen Diskussionen wurde die Vermutung geäußert, die Vorgänge um Tiedge könnten, wie »im Fall Guillaume«,7 zu personellen Veränderungen in der BRD-Regierung bzw. zu einem Regierungswechsel führen. In diesem Zusammenhang wurde spekuliert, die Kundschafter der DDR seien gerade jetzt abgezogen worden, um mit Blick auf die nächsten Bundestagswahlen bereits erste politische Akzente gegen die CDU zu setzen.

Wiederholt wurde die Befürchtung ausgesprochen, diese »Spionagefälle« könnten die Beziehungen zwischen der BRD und der DDR auf politischem, wirtschaftlichem und humanitärem Gebiet belasten.

In diesem Zusammenhang werden Verlautbarungen aus Sendungen westlicher Funkmedien hervorgehoben, u. a. auch entsprechende Äußerungen des Bundeskanzlers der BRD, Kohl.8 Darüber hinaus könnten sich auch negative Folgen für die bevorstehenden Gespräche des Genossen Gorbatschow9 mit dem USA-Präsidenten Reagan10 ergeben.11

Einzelne Bürger aus Grenzgebieten des Bezirkes Erfurt befürchten, dass sich gegenwärtig verunsicherte BRD-Spione in der DDR dazu entschließen könnten, die DDR auch unter Gewaltanwendung ungesetzlich zu verlassen.

Unter einzelnen politisch ungefestigten Personen wird »argumentiert«, beide Seiten würden »Spionage« betreiben, sodass keiner dem anderen einen Vorwurf zu machen brauche. Dabei stellen sie die Spionagetätigkeit westlicher Geheimdienste und die Kundschaftertätigkeit des MfS gleich und unterstellen, die DDR betreibe in der BRD in großem Stil »Spionage« und lasse sich deshalb auch nicht »in die Karten sehen«.

Einzelne Übersiedlungsersuchende befürchten die Ablehnung ihrer Ersuchen bzw. erwarten bei einer möglichen Genehmigung, dass man ihnen in der BRD mit großem Misstrauen begegnen werde, weil jeder Übergesiedelte auch ein »Spion« der DDR sein könne.

  1. Zum nächsten Dokument Einnahmen Mindestumtausch, 19.–25.8.1985

    28. August 1985
    Information Nr. 372/85 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 19. August 1985 bis 25. August 1985

  2. Zum vorherigen Dokument Festnahmen von NVA-Angehörigen

    24. August 1985
    Information Nr. 361/85 über die Festnahme von zwei Unteroffizieren der 4. Motorisierten Schützendivision (MSD) und eines Soldaten des Pionierbaubataillons-24