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Reaktionen der Bevölkerung auf den Überläufer Tiedge (2)

7. September 1985
Weitere Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das Asylersuchen des ehemaligen Regierungsdirektors im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfVS) der BRD, Tiedge, und Veröffentlichungen zu Festnahmen von BRD-Spionen [O/148a]

Im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen über das Asylersuchen des Tiedge1 und die Festnahme von BRD-Spionen in der DDR2 ist unter allen Teilen der Bevölkerung der DDR weiter reges Interesse zu verzeichnen; die Meinungsäußerungen weisen jedoch eine rückläufige Tendenz auf.

Grundtenor vorliegender Meinungsäußerungen ist nach wie vor die hohe Wertschätzung der Arbeit des MfS. Die Erfolge des sozialistischen Sicherheitsorgans seien einzuordnen als entscheidender Beitrag unseres Staates zur konsequenten Durchsetzung der auf Frieden und Entspannung gerichteten Politik.

Insbesondere unter Arbeitern, Angestellten und Angehörigen der Intelligenz wird davon ausgegangen, dass Tiedge als langjähriger Kundschafter des MfS tätig war.

Zwischen seinem Übertritt in die DDR, den Meldungen über die Arbeit der Sicherheitsorgane der DDR und dem »Verschwinden« weiterer Personen aus westdeutschen Dienststellen wird ein enger Zusammenhang gesehen.

So wird in Meinungsäußerungen hervorgehoben:

  • Das MfS habe »ganze Arbeit« geleistet.

  • Man könne davon ausgehen, die DDR sei seit vielen Jahren über entscheidende Schritte des BfVS informiert gewesen.

  • Die Partei- und Staatsführung werde offensichtlich stets zuverlässig über die Pläne und Absichten des Gegners informiert und könne dadurch jederzeit politisch richtige und weitsichtige Entscheidungen treffen.

Im Vergleich dazu wird betont, es habe sich gleichzeitig gezeigt, welche Schwächen die Geheimdienste der BRD in ihrer Zusammenarbeit untereinander offenbaren.

Mehrfach werden Fragen aufgeworfen wie:

  • Ist damit zu rechnen, dass durch den Rückzug von Tiedge weitere BRD-Spione unschädlich gemacht werden? Er komme sicherlich nicht mit leeren Händen.

  • Welche Maßnahmen werden die gegnerischen Geheimdienste einleiten?

  • Welcher politische Schaden ist für die Bundesregierung entstanden?

  • Wird es in der Regierungsspitze der BRD entscheidende Veränderungen geben?

Verstärkt treten unter Teilen der Bevölkerung Meinungen auf, in denen die Kürze der Pressemeldungen in unseren Massenmedien3 bedauert wird. Es werden verbreitet Erwartungen geäußert, unsere Medien mögen in nächster Zeit konkreter über diese aktuellen Geschehnisse informieren.

Mit Bezug auf vielfältige Sendebeiträge westlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten – die offensichtlich umfangreich verfolgt werden – gibt es teilweise Genugtuung und Schadenfreude darüber, dass »der Westen so hektisch« reagiere. Es wird wiederholt darauf verwiesen, ohne den Empfang derartiger Sendungen sei es nicht möglich, die »erwachsenden Konsequenzen für die BRD« als DDR-Bürger zu erkennen und einzuschätzen. Daher könne beispielsweise eine Pressekonferenz mit Tiedge dazu beitragen, die nachrichtendienstliche Tätigkeit der BRD zu enthüllen.

Mehrfach wurde diesbezüglich Bezug auf das Auftreten der Aufklärerin Ursel Lorenzen4 in der Öffentlichkeit genommen.

Aus einer Reihe von Meinungsäußerungen ist darüber hinaus ersichtlich, dass allgemein eine breitere Öffentlichkeitsarbeit des MfS gewünscht wird.

Die Bemühungen westlicher elektronischer Medien, Tiedge als Alkoholiker und Schuldner darzustellen, seine »Flucht« in die DDR als Kurzschlussreaktion glaubhaft machen zu wollen und seine Handlung zu kriminalisieren, werden im Allgemeinen als Versuch gewertet, die politische Tragweite in möglichst kleinen Grenzen zu halten.

Mitglieder des Verbandes Bildender Künstler des Bezirksverbandes Frankfurt/Oder schätzen ein, dass es aufgrund seines Wissens unsinnig sei, den Spekulationen über seine persönlichen Verhältnisse Glauben zu schenken.

Von Pfarrern und christlich gebundenen Bürgern des Bezirkes Suhl wurde u. a. hervorgehoben:

  • Die Abberufung Tiedges habe politische Motive; die Regierung Kohl5 solle in Schwierigkeiten gebracht werden.

  • Die von den BRD-Medien entfachte Kampagne zum angeblichen Lebenswandel Tiedges sei anzuzweifeln, da solche Informationen bereits vorher zu seiner Enttarnung hätten führen müssen.

  • Nun sei auch die Mitteilung im ND vom 23. August 1985 verständlich, nach der so viele BRD-Spione in der DDR festgenommen werden konnten.

Nur in Einzelfällen wurde von Bürgern behauptet, das Asylersuchen von Tiedge in der DDR sei aus Angst vor persönlichen Konsequenzen in der BRD erfolgt bzw. seine »Fehlverhaltensweisen« seien ausgenutzt worden, um ihn zu einem solchen Schritt zu bewegen.

Neben anhaltenden Meinungsäußerungen über eine mögliche Belastung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, bringen vor allem progressiv eingestellte Personen zum Ausdruck, die BRD werde gleichfalls versuchen, der DDR einen ähnlichen Schaden zuzufügen.

So wurde mehrfach befürchtet, darunter auch von NSW-Reisekadern, dass die BRD-Grenzkontrollorgane künftig ihre Kontrollmaßnahmen verstärken werden. Deshalb müssten dienstliche Reisen in die BRD noch sorgfältiger vorbereitet werden. Darüber hinaus sei es ihrer Meinung nach auch für das MfS immer schwieriger, wichtige Funktionen mit Kundschaftern zu besetzen; das könne sich dann nachteilig auf das Sicherheitsbedürfnis der DDR auswirken.

Vor allem unter labilen und politisch negativ eingestellten Personen wurde vereinzelt behauptet:

  • Die Welt sei heute voller »Spione«; man könne sich nicht mehr sicher fühlen. »Wer weiß, was der Westen auch bei uns für Spione hat.«

  • Das MfS arbeite ebenfalls unter der eigenen Bevölkerung. Daher sei jetzt noch mehr Vorsicht geboten.

  • Man müsse vor der »Stasi« auf der Hut sein.

Ein operativ unter Kontrolle stehender Pfarrer äußerte bezüglich Tiedge, ihm sei unerklärlich, wie das MfS solche Personen für sich gewinnen kann. Es stelle sich für ihn die Frage, wie er Ähnliches innerhalb seiner Kirche verhindern könne.

  1. Zum nächsten Dokument Haltungen Willy Brandts vor seinem geplanten DDR-Besuch

    9. September 1985
    Information Nr. 376/85 über die Haltung des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt im Zusammenhang mit seinem geplanten Aufenthalt in der DDR (18. bis 20.9.1985)

  2. Zum vorherigen Dokument Einnahmen Mindestumtausch, 26.8.–1.9.1985

    4. September 1985
    Information Nr. 377/85 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 26. August 1985 bis 1. September 1985