Reaktionen der Bevölkerung auf Gorbatschow-Interview
20. April 1985
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das Interview des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow, für die »Prawda« [O/140]
Das »Prawda«-Interview1 des Genossen Gorbatschow,2 insbesondere die darin enthaltenen Vorschläge zur Rüstungsbegrenzung und Eindämmung des Wettrüstens, finden unter breitesten Kreisen der Bevölkerung große Beachtung und Zustimmung.
Die neuen Initiativen der UdSSR werden als weiteren Beweis dafür bewertet, die Rüstungsspirale zu stoppen und den Frieden zu bewahren. Sie sind, so wird vielfach argumentiert, ein bedeutender Beitrag zur Gesundung des internationalen Klimas.
Vor allem progressive Bürger erkennen in den neuen Friedensinitiativen der Sowjetunion einen entscheidenden Schritt, um zu praktischen Ergebnissen bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen3 zu kommen. Begrüßt werden von ihnen die klaren und unmissverständlichen Darlegungen des Genossen Gorbatschow, vor allem auch der darin zum Ausdruck gebrachte eindeutige Standpunkt der UdSSR, keine militärische Überlegenheit des NATO-Paktes zuzulassen.
Arbeiter, Angestellte, Mitarbeiter des Staatsapparates und Angehörige der Intelligenz bringen zum Ausdruck,
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die im Interview enthaltenen Vorschläge und Gedanken seien verhandlungsfördernd und klimaverbessernd,
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die einseitigen Maßnahmen der UdSSR bewiesen ihr beharrliches Bemühen, der Rüstungsspirale ein Ende zu setzen,
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die neuen Friedensinitiativen zeigten in aller Welt, wie der Sowjetunion mit aller Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit an einem Verhandlungserfolg in Genf gelegen ist.
Politisch interessierte Bürger erwarten längerfristig eine positive Reaktion der Reagan-Administration, die ihrer Meinung nach in »Zugzwang« geraten sei. In diesem Zusammenhang wird auch dem angekündigten Außenministertreffen beider Staaten Bedeutung beigemessen, von dem man sich neue Impulse für die Verhandlungen in Genf verspricht.
In vielfältigen Diskussionen werden jedoch auch Zweifel am Erfolg der Abrüstungsgespräche geäußert. Vor allem unter Hinweis auf die jüngsten Beschlüsse zur Stationierung von Marschflugkörpern in Belgien4 und der Absichtsbekundung führender BRD-Politiker, sich an den Sternenkriegsprojekten der USA5 zu beteiligen, wird von breiten Teilen der Bevölkerung befürchtet, der erneute Vorstoß der UdSSR werde keine Änderung der Position der Reagan-Administration und ihrer westeuropäischen Verbündeten bewirken.
Breite Teile der Bevölkerung bringen in Meinungsäußerungen zum Ausdruck,
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der Verhandlungswille der USA sei nicht von Aufrichtigkeit gekennzeichnet,
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die spontane Ablehnung des Moratoriums der UdSSR durch Reagan6 dokumentiere die gegenwärtig komplizierte Situation in Genf,
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die Weiterführung des Hochrüstungskurses und die Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Westeuropa zeige das Festhalten der USA an der Position der Stärke,
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durch die enge Verflechtung militärischer und monopolistischer Interessen werde nicht zugelassen, auf Profite bei der Entwicklung neuer Waffensysteme zu verzichten.
In Einzelfällen wird hervorgehoben, die USA würden letztendlich doch kein Entgegenkommen zeigen und deshalb seien weitere militärische Gegenmaßnahmen der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft unerlässlich.
Die Sowjetunion ließe sich ihrer Meinung nach mit einseitigen Maßnahmen auf ein »gefährliches Spiel« ein, da die Reagan-Administration kein Interesse an tatsächlicher Abrüstung habe.
Vereinzelte resignierende Äußerungen beinhalten, einseitige Absichtserklärungen und Maßnahmen der sozialistischen Staaten seien überflüssig, da die USA letztendlich doch machten, was sie wollen. Sie würden versuchen, die Initiativen vor allem der UdSSR zu ignorieren, erneut mit fadenscheinigen Argumenten ausweichen und an ihrem aggressiven Kurs festhalten.
Erste Meinungsäußerungen zum möglichen Gipfeltreffen zwischen dem Generalsekretär des ZK der KPdSU, Genossen Gorbatschow, und USA-Präsident Reagan sind in diesem Zusammenhang sehr differenziert zu werten. Sie reichen von Auffassungen, die Genfer Abrüstungsverhandlungen würden dadurch positiv beeinflusst, bis hin zu der Befürchtung, die USA könnten ein solches Treffen für ihre Interessen politisch missbrauchen.
Vereinzelt werden diesbezüglich Fragen aufgeworfen wie:
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Sind überhaupt entsprechende Voraussetzungen für ein derartiges Gipfeltreffen gegeben?
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Ist die Zusage dafür Ausdruck gewisser Veränderungen in der Linie der sowjetischen Außenpolitik?
Einzelne Bürger, darunter Amtsträger der evangelischen Kirche und Kirchenangestellte, sind der Auffassung, durch die Vorschläge der UdSSR könne die gegenwärtige eskalierte Situation abgebaut werden. Die verkündeten Maßnahmen sollten auch einseitig durchgesetzt werden, da »einer den Anfang machen und ein Zeichen setzen« müsse. Trotzdem solle man sich unter Bezugnahme auf die aggressive Politik der NATO unter Führung der USA vor Illusionen hüten.
In Einzelfällen äußerten katholische Geistliche, in der »großen Politik« scheine sich nun doch etwas anzubahnen. Es sei erstaunlich, wie Gorbatschow die Initiative ergreife. Reagan könne jetzt nicht mehr alles so machen, wie er es wolle.
In einzelnen Meinungsäußerungen unter politisch ungefestigten Personen widerspiegeln sich eindeutig Argumentationen westlicher Massenmedien. Dabei sind im Wesentlichen zwei Richtungen erkennbar. Auf der einen Seite wird behauptet,
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die vom Genossen Gorbatschow unterbreiteten Vorschläge entbehrten jeder »soliden Basis«,
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die UdSSR habe waffentechnisch ausreichend Vorlauf geschaffen und sei mit der Aufstellung ihrer SS-207 fertig,
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der in Europa gegenwärtig erreichte Stationierungsstand an sowjetischen Mittelstreckenraketen sichere die militärische Überlegenheit der Sowjetunion.
Im Gegensatz dazu stehen solche »Argumente« wie:
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Die neuen Friedensinitiativen seien ein »politisches Manöver« der UdSSR.
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Sie seien nur deshalb verkündet worden, um angebliche Forschungs- und Entwicklungsrückstände auszugleichen und Zeit für die Entwicklung eigener, neuer Waffensysteme zu gewinnen.
Vielfach wurde im Zusammenhang mit Äußerungen zu diesen aktuell-politischen Fragen das Vorkommnis mit einem Offizier der amerikanischen Militärverbindungsmission am 24.3.1985 als gezielte Provokation der Reagan-Administration gewertet, um vor allem den Verlauf der Genfer Abrüstungsverhandlungen zu stören.8
Mehrfach verwiesen Bürger darauf, dass in der Vergangenheit seitens der USA immer wieder versucht wurde, in der Zeit wichtiger weltpolitischer Entscheidungen die konsequente Friedenspolitik der UdSSR in Misskredit zu bringen und ihr einen aggressiven Charakter nachzuweisen.
Dabei wurde zum Ausdruck gebracht, die USA hätten ähnlich wie bei der Luftraumverletzung des sowjetischen Hoheitsgebietes durch ein südkoreanisches Verkehrsflugzeug9 demonstriert, was ihnen Menschenleben bedeuten, wenn es darum gehe, politisches Kapital zu erzielen. Der Tod dabei beteiligter Personen sei möglicherweise einkalkuliert worden.
Von der überwiegenden Mehrheit der sich zu diesem Vorfall äußernden Personen wurde betont, es sei allgemein bekannt, dass militärische Objekte von Unbefugten nicht betreten oder befahren werden dürfen. Wer in solche Sperrgebiete eindringt, müsse, so wird argumentiert, mit möglichen Konsequenzen rechnen. Daher sei ihrer Meinung nach die Anwendung der Schusswaffe durch den sowjetischen Wachposten gerechtfertigt gewesen.
Nur in Einzelfällen gaben Bürger zu bedenken, ob eine Verhinderung der Provokation mit anderen Mitteln nicht ausgereicht hätte.
Vereinzelt wurde Unverständnis über eine angeblich zu späte Berichterstattung unserer Massenmedien zu diesem Vorkommnis geäußert.
Ihrer Meinung nach hätten unsere Bürger die Information wieder aus »erster Hand« über das Westfernsehen erhalten.