Verhinderte Flucht einer DDR-Bürgerin mit BRD-Schulklasse
30. April 1985
Information Nr. 187/85 über die Verhinderung der Ausschleusung einer DDR-Bürgerin unter Missbrauch des touristischen Aufenthaltes einer Schülergruppe aus Berchtesgaden/BRD in der DDR am 29. April 1985
Am 29. April 1985, gegen 17.10 Uhr wurde an der Grenzübergangsstelle Hirschberg bei der Ausreisekontrolle einer Schülergruppe mit Betreuer aus der BRD in dem von ihnen benutzten Reisebus, amtliches Kennzeichen BGL – S 720, hinter der Rückenlehne der letzten Sitzbank versteckt und unter Kleidungsstücken verborgen, die Bürgerin der DDR, [Name 1, Vorname] (18), Beruf: ohne, zuletzt Fachverkäuferlehrling bei der HO Fleischwaren, wohnhaft Berlin-Pankow, [Straße, Nr.], entdeckt, welche auf diese Weise in die BRD ausgeschleust werden sollte. Zur Klärung des Sachverhaltes wurde die Reisegruppe zeitweilig aus dem Reisestrom herausgelöst.
Auf zentralen Entscheid wurde der BRD-Reisegruppe um 19.25 Uhr die Ausreise nach der BRD gestattet.
Die seitens des MfS bisher geführten Untersuchungen haben ergeben:
Die [Name 1] besuchte am 28. April 1985 eine Disko-Veranstaltung am Fernsehturm. Im Verlaufe des Abends wurde sie mit einigen Jugendlichen aus der BRD bekannt, die mit einer Schülerreisegruppe am 25. April 1985 in die DDR eingereist waren. Die Reise, welche touristische Sehenswürdigkeiten in Berlin, Stralsund und Lehnitz zum Ziel hatte, war durch das Reisebüro »Hansa-Tourist GmbH« Hamburg beim Jugendreisebüro der FDJ »Jugendtourist« (Nr. HT 5240–332-006) gebucht und organisiert worden. Der Reisegruppe gehörten zwei Betreuer sowie 21 westdeutsche und ein kanadischer Schüler (im Alter von 17 bis 18 Jahren) der Jugenddorf-Christophorus-Schule (kirchliche Einrichtung) Berchtesgaden an.
Bisherigen Untersuchungen zufolge bekam die DDR-Bürgerin von einer der Schülerinnen, die dabei von drei weiteren Schülern unterstützt wurde, das Angebot, von diesen in einem Reisebus versteckt in die BRD ausgeschleust zu werden. Obwohl die [Name 1] nach ihren bisherigen Angaben vorher niemals eine solche Absicht hatte, sei ihr dieses Angebot so verlockend erschienen, dass sie spontan zusagte.
Entsprechend den getroffenen Absprachen reiste die DDR-Bürgerin am 29. April 1985 nach Potsdam, wo durch die vier zwischenzeitlich identifizierten Schüler aus der BRD ihre Aufnahme im KOM und die Unterbringung im Versteck erfolgte.
Andere Personen der BRD-Reisegruppe sollen – bisherigen Untersuchungen zufolge – von diesem Vorhaben weder gewusst noch dessen Durchführung bemerkt haben.
Entsprechend bisher vorliegenden Hinweisen sollen von Schülern der BRD-Reisegruppe während der Disko-Veranstaltung am 28. April 1985 in Berlin auch gegenüber zwei weiteren DDR-Bürgerinnen derartige Angebote zur Ausschleusung nach der BRD unterbreitet worden sein. (Maßnahmen zur Identifizierung sind unverzüglich eingeleitet worden.)
Der als Reiseleiter dieser Schülergruppe fungierende BRD-Bürger [Name2, Vorname] äußerte, dass die Schüler über ein ordnungsgemäßes Verhalten in der DDR belehrt worden seien. Zur Warnung seien die Schüler auch auf das Vorkommnis vom Dezember 1984, als eine Schülergruppe aus Marburg den DDR-Bürger Bergmann, Bernhard1 in einem Bus versteckt über die Grenzübergangsstelle Wartha ausschleuste, was ausführlich in westlichen Medien behandelt wurde, hingewiesen worden.
Gegen die DDR-Bürgerin wurde ein Ermittlungsverfahren gemäß § 213 StGB2 eingeleitet und Haftbefehl erlassen.
Gegen die vier an der beabsichtigten Ausschleusung beteiligten Schüler sowie gegen den Reiseleiter/Betreuer der BRD-Reisegruppe, [Name 2, Vorname] (32, Lehrer), einen weiteren Betreuer, [Name 3, Vorname] (37, Lehrer), die in grober Art und Weise ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt haben, sowie den Kraftfahrer erfolgt die Einleitung von Reisesperrmaßnahmen. Sperrmaßnahmen werden ebenfalls für weitere Einreisen mit den von der Reisegruppe benutzten KOM der Firma [Firmenname] Schönau/BRD eingeleitet.
Es wird vorgeschlagen, seitens des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten gegenüber der Regierung der BRD gegen diesen Missbrauch des Reiseverkehrs zu rechtswidrigen Handlungen in geeigneter Form Protest einzulegen und die Erwartung auszusprechen, dass die Regierung der BRD Maßnahmen trifft, um künftig derartige Handlungen zu unterbinden und jegliche zur Nachahmung anregende öffentliche Verherrlichung und Rechtfertigung der Tat zu verhindern.