Zweites überregionales Treffen von Frauenfriedensgruppen (1)
29. April 1985
Information Nr. 152a/85 über die Durchführung des zweiten überregionalen Treffens sogenannter Frauenfriedensgruppen aus der DDR in der Zeit vom 29. bis 31. März 1985 in der Hauptstadt der DDR, Berlin
In der Zeit vom 29. bis 31. März 1985 wurde im kirchlichen Objekt Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee – in Fortführung eines im September 1984 in Halle stattgefundenen Treffens (Information des MfS Nr. 368/84 vom 27. September 1984) – ein erneutes überregionales Treffen von Vertretern sogenannter Frauenfriedensgruppen aus der DDR mit der Bezeichnung »Frauenfriedensseminar« durchgeführt.
Es stand unter Schirmherrschaft der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und wurde vorbereitet und organisiert von den Führungskräften der wegen fortgesetzter feindlich-negativer Aktivitäten hinlänglich bekannten Gruppe »Frauen für den Frieden«1 Berlin (u. a. Bärbel Bohley,2 Ulrike Poppe,3 Irena Kukutz,4 Rommy Mehner,5 Jutta Seidel,6 Gisela Metz,7 Annedore Havemann8).
Vorliegenden internen Hinweisen zufolge nahmen an diesem Treffen – seinem Charakter nach bisherigen Treffen sogenannter Friedenskreise und Umweltgruppen nahekommend – insgesamt 107 Frauen aus zehn Bezirken der DDR teil (1984 in Halle = 47 Frauen aus sechs Bezirken). Sie vertraten insgesamt 15 sogenannte Frauenfriedensgruppen. Die Mehrzah1 der Teilnehmer kam aus der Hauptstadt der DDR, Berlin (51 Personen) sowie aus den Bezirken Erfurt (11) und Halle (9). Die Mehrheit ist wegen wiederholter feindlich-negativer Handlungen und Verhaltensweisen hinlänglich bekannt; eine Reihe der anwesenden Personen war bereits Teilnehmer des Treffens 1984 in Halle bzw. weiterer Treffen und Zusammenkünfte oppositioneller und feindlich-negativer Kräfte in der Vergangenheit.
Im Auftrage der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg wirkte Pastorin Inge Mayer9 (Pressereferentin im Konsistorium der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und Leiterin des »Frauenkreises« der evangelischen Bartholomäus-Gemeinde Berlin-Friedrichshain) als »theologischer Beistand« differenziert an der Vorbereitung und Durchführung des Treffens mit. Anwesend waren ferner die Pastorinnen Misselwitz10 (Führungskraft des »Friedenskreises« Alt-Pankow), Sept-Hubrich11 (Fredersdorf, [Bezirk] Frankfurt/O.) und Passauer12 (Berlin) sowie das Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Gunda Graewe13 (Mitglied des »Friedensarbeitskreises« Königs Wusterhausen).
Seitens kirchlicher Amtsträger war lediglich Generalsuperintendent Krusche14 kurzzeitig präsent.
Am Treffen nahmen – nach vorliegenden Hinweisen – vier weibliche Personen aus der BRD bzw. Westberlin teil, darunter die wegen ihrer feindlichen Haltung zur und der Unterstützung von oppositionellen Kräften in der DDR hinlänglich bekannte ehemalige Bundestagsabgeordnete der Partei »Die Grünen« der BRD, Gabriele Potthast.15
Mit dem Ziel der möglichen Verhinderung des Treffens bzw. Kirche in Berlin-Brandenburg, durchgeführt:
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Gespräch des Staatssekretärs für Kirchenfragen der DDR, Genossen Gysi,16 mit dem Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Forck,
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Gespräch des Leiters des Sektors für Kirchenfragen beim Magistrat der Hauptstadt der DDR, Berlin, Dr. Mußler,17 mit Generalsuperintendent Krusche,
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Gespräche des Stellvertreters des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres des Rates des Stadtbezirkes Berlin-Friedrichshain mit Mitgliedern der Gemeindekirchenräte der Auferstehungs- und Bartholomäus-Gemeinde,
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Gespräch mit dem Leiter der Stephanus-Stiftung Berlin-Weißensee, Pastor Braune.18
In aller Deutlichkeit wurden diese Personen – ausgehend von vorliegenden Erkenntnissen über die Hintergründe und Zielstellungen des geplanten Treffens – auf dessen zu erwartenden durchgängig politischen und möglicherweise provokativen Charakter hingewiesen. Ihnen wurde erneut die staatliche Erwartungshaltung, in kirchlichen Einrichtungen ausschließlich Handlungen religiösen Inhalts und Charakters zuzulassen, erläutert.
Dieser Erwartungshaltung wurde durch Toleranz und Inkonsequenz insbesondere der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und seitens Generalsuperintendent Krusche nicht im Geringsten entsprochen.
Damit waren wesentliche Voraussetzungen für die Inspiratoren-Organisatoren dieses Frauentreffens gegeben, ihre ausschließlich politisch motivierte feindlich-negative Zielsetzung zu verwirklichen.
Im Ergebnis aller bisher vorliegenden Hinweise und Erkenntnisse ist das zweite überregionale Treffen sogenannter Frauenfriedensgruppen in der DDR als ein weiterer bedeutsamer Schritt hinlänglich bekannter feindlich-negativer Kräfte zu werten, im Sinne der Inspirierung-Organisierung einer sogenannten inneren Opposition wirkende Frauengruppen zusammenzuführen, auf einheitliche politische und organisatorische Grundpositionen festzulegen und auf weitergehende Aktivitäten zu orientieren.
Es ist einzuschätzen:
Mit dem Treffen haben die Inspiratoren-Organisatoren einer sogenannten alternativen Frauenbewegung in der DDR qualitativ und quantitativ eine höhere Stufe ihrer Entwicklung erreicht. Es zeichnet sich eine Organisationsform ab, die Ausgangspunkt einer weiteren Formierung dieser Kräfte sein könnte. Die Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin wurde gewissermaßen als »Leitgruppe« anerkannt.
Die feindlich-negativen Führungskräfte der sogenannten alternativen Frauenbewegung um Bärbel Bohley haben ihre inhaltlich weiter präzisierten Konzeptionen und Vorstellungen bezogen auf das künftige Wirksamwerden sogenannter Frauengruppen umfassend popularisieren und durchsetzen können.
Dieses Konzept beinhaltet auch die »Einbindung« der sogenannten alternativen Frauenbewegung der DDR in die sogenannte blockübergreifende europäische Friedensbewegung,19 wozu seitens der bekannten Führungskräfte umfassende Verbindungen zu feindlichen Kräften in nichtsozialistischen Staaten unterhalten werden und wovon auch die Anwesenheit der ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Partei »Die Grünen« der BRD, Potthast, am Treffen zeugt.
Gegenüber den hinlänglich bekannten feindlich-negativen Führungskräften und differenziert gegenüber weiteren Mitgliedern von Frauengruppen eingeleitete Disziplinierungsmaßnahmen und gezielte Maßnahmen staatlicher und gesellschaftlicher Einflussnahme blieben in der Regel ohne die erhoffte andauernde Wirkung.
Einige exponierte Kräfte intensivieren demgegenüber noch ihr feindlich-negatives Wirksamwerden (Beweis dafür ist u. a. das Auftreten der Bohley. Intern vorliegenden Hinweisen zufolge äußerte sie, sich in der DDR wohlzufühlen und tun zu können, was sie wolle. Der Staat wage es nicht, etwas gegen sie zu unternehmen. Sie sei von einem gewissen Nimbus umgeben, den sie auch auf Veröffentlichungen in westlichen Medien zurückführe.).
Im Zusammenhang mit der Vorbereitung des genannten Treffens und zur Nachweisführung des konzeptionellen Vorgehens der Organisation sind folgende Erkenntnisse beachtenswert:
Entsprechend einem Vorschlag der Bärbel Bohley während des ersten Treffens in Halle, ein Folgetreffen im Frühjahr 1985 in Berlin durchzuführen, übernahm die nicht an kirchliche Strukturen gebundene Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin, insbesondere deren bereits genannte Führungskräfte, die Initiative zur Realisierung dieses Vorhabens. In einem relativ konstanten Kreis ausgewählter Personen wurden seit Januar 1985 in Privatwohnungen regelmäßig Beratungen zur inhaltlichen Zielstellung und zur organisatorischen Absicherung des geplanten Treffens durchgeführt. Diese Beratungen waren durch ein gezieltes konzeptionelles Vorgehen der Bohley und des »harten Kerns« der Gruppe »Frauen für den Frieden« bei gleichzeitiger Beachtung konspirativer Erfordernisse gekennzeichnet. Sie ließen insgesamt die Absicht der Inspiratoren-Organisatoren erkennen, das als »Seminar« geplante Frauentreffen ausschließlich für ihre politische Zielstellung im Sinne der Zusammenführung und konzeptionellen Orientierung von Zusammenschlüssen auf oppositionellen und feindlich-negativen Positionen stehender Frauen zu missbrauchen. Nach ihren intern geäußerten Auffassungen sollte die Kirche lediglich als »absichernder offizieller Rahmen« genutzt, eine »Anbindung« an die Kirche jedoch prinzipiell verhindert und ihr gegenüber keinerlei Konzessionen zugelassen werden. In diesem Zusammenhang wurde weiter intern zum Ausdruck gebracht, dass die Kirche für das Wirken bestimmter oppositioneller Kräfte noch eine gewisse Zeit benötigen werde, da man – neben der Suche nach neuen Möglichkeiten – auch künftig unter Mithilfe der Kirche öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen durchzuführen gedenke. Entsprechend diesen Vorstellungen wurde von den Organisatoren differenziert auf die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg eingewirkt und im Ergebnis dessen Generalsuperintendent Krusche als »Schirmherr« gewonnen sowie die Nutzung des kirchlichen Objektes Stephanus-Stiftung als Tagungsstätte erwirkt.
Ein analoges Vorgehen kennzeichnete die Einladungspraxis.
Durch Abfassung der Einladungen und Unterschrift der Pastorin Mayer wurde nach außen hin der Anschein einer Veranstaltung rein kirchlichen Charakters erweckt. Tatsächlich jedoch wurden von den Inspiratoren-Organisatoren des Treffens der Teilnehmerschlüssel festgelegt – zum Teil unter Zugrundelegung der Teilnehmerliste des Treffens in Halle – und die Einladungen weitergeleitet, sodass die Kirchenleitung keine konkrete Kenntnis über die eingeladenen und tatsächlich anwesenden Personen erhielt.
Die auf den Beratungen in Vorbereitung des Treffens geführten Diskussionen zu inhaltlichen Schwerpunkten ließen anfangs sehr differenzierte, uneinheitliche Auffassungen erkennen, die jedoch zunehmend kanalisiert wurden. Auch in diesem Prozess übte die Bohley eine gewisse Führungsrolle aus. Mit der bereits im Januar 1985 erfolgten Festlegung des Themas der Veranstaltung: »40 Jahre Befreiung«20 – »Heimat ist der Ort, in dem wir uns verantwortlich fühlen und in dem wir in Verantwortung genommen werden« (nach einem Ausspruch des ehemaligen Bischofs der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, Rathke21), der Festlegung der Themen der geplanten vier Gesprächsgruppen und der Bestimmung verantwortlicher Gesprächsleiter für diese Gruppen schafften die Organisatoren günstige Voraussetzungen für einen Verlauf des Treffens nach ihren Vorstellungen. Gegenstand ihrer Beratungen bildete auch bereits das weitere Vorgehen nach dem Treffen.
Zum Verlauf des Treffens sogenannter Frauenfriedensgruppen in der Hauptstadt der DDR, Berlin, selbst liegen dem MfS nachfolgende streng vertrauliche Hinweise vor:
Zur Eröffnung der Veranstaltung am Freitag, 29. März 1985 waren 55 Frauen anwesend; weitere reisten am Sonnabend Vormittag an (ca. 30 Personen) bzw. erschienen erst am Sonntag. Die Begrüßung am 29. März 1985 (19.30 Uhr) erfolgte durch Pastorin Mayer. Danach kam es, in Anlehnung an ähnliche Treffen oppositioneller Kräfte, zu einer Vorstellung der einzelnen Gruppen. Dabei wurde deutlich, dass diese Frauengruppen im Ergebnis von Diskussion über einen eigenständigen Beitrag der Kirchen bzw. der Frauen zu Friedens-, Umweltschutz- und ähnlichen Fragen entstanden, überwiegend an kirchlichen Strukturen gebunden sind und gegenwärtig Versuche der weiteren inhaltlichen und organisatorischen Profilierung unternehmen.
Der zweite Tag des Treffens – eröffnet durch Pfarrer Braune (Leiter der Stephanus-Stiftung) – war wesentlich geprägt durch die Gruppenarbeit. In allen vier Gesprächsgruppen bestimmten die feindlich-negativen Kräfte der Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin die Diskussion, wobei sie sich wesentlich auf die vorbereiteten schriftlichen Konzeptionen zur jeweiligen Themenstellung stützten. Diese Gruppe stellte auch die jeweiligen Gruppenleiter.
Streng vertraulich wurde bekannt:
Gesprächsgruppe »Unsere Verantwortung für das Leben ist eine politische Verantwortung« – Leitung: Ulrike Poppe
In den Ausgangsthesen wurde u. a. hervorgehoben, dass es kein »Sich heraushalten« gebe. Jedes Schweigen und gewähren lassen heiße, sich unterzuordnen und das Bestehende zu stützen. »Wollen wir als selbstständig denkende und urteilende Frauen unser Recht auf Verantwortung ausschöpfen, müssen wir über die uns vom Staat zugewiesenen Möglichkeiten hinaus neue Wege versuchen … Wir wollen Politik machen, jedoch nicht nach dem herrschenden Politikverständnis … eine Art Antipolitik, in der wir Frau sein können …« Die Poppe hob u. a. hervor, dass politische Verantwortung sich im »Recht auf Widerstand« äußere. Ihre Gruppe würde sich deshalb in Konfrontation zum Staat begeben, weil sie sich als »Friedensgruppe« verstehe. Lebensansprüche, die in der DDR nicht zu verwirklichen seien, müssten über die Grenzen des Staates hinaus bekannt gegeben werden; damit sei gleichzeitig die Rolle des Staates in der Öffentlichkeit bloßzustellen. In der Diskussion wurde darauf verwiesen, den »Prozess der Verbreiterung« zu führen, auf den Arbeitsstellen, in Wahlversammlungen, während Veranstaltungen des DFD,22 der Urania usw. aufzutreten, Fragen zu stellen, die Anwesenden mit »anderen« Meinungen zu konfrontieren. Ferner solle man sich weiter in Gruppen zusammenschließen, gegenseitig Erfahrungen austauschen und untereinander Solidarität üben. Die Mehner unterstellte dem Ministerium für Volksbildung der DDR, den Schülern im Geschichtsunterricht Lügen zu vermitteln (Verschweigen der Existenz von Konzentrationslagern in der UdSSR während der Stalin-Zeit). Unter Verweis auf einen Brief ihrerseits an den Leiter des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR behauptete sie, »Atomkraftexperten« der DDR würden gleichfalls die Bevölkerung mit Lügen überhäufen (Der genannte Brief wurde von der Mehner in Abstimmung mit weiteren, dem MfS hinlänglich bekannten feindlich-negativen Kräften formuliert und im Januar 1985 mit dem Ziel versandt, einen »Dialog« auf diesem Gebiet zwischen oppositionellen Kräften und staatlichen Einrichtungen in Gang zu bringen sowie eventuelle schriftliche Beantwortungen für feindlich-negative Zwecke zu missbrauchen).23 In diesem Zusammenhang wurde in der Diskussion herausgearbeitet, eine geeignete Form, politische Verantwortung zu tragen, bestehe im Abfassen derartiger Schreiben und Eingaben. Die Potthast vertrat in dieser Arbeitsgruppe matriarchalische, feminine Auffassungen und sprach sich dafür aus, dass Frauen die »gesellschaftlichen Entwürfe« machen müssten.
Gesprächsgruppe »Möglichkeiten, als Frau Verantwortung zu tragen« – Leitung: Elisabeth Gibbels24
Die Organisatoren dieser Gesprächsgruppe hatten ein Informationsmaterial vorbereitet und in Plakatform ausgestellt. Unter der Rubrik »Was können wir tun?« wurden Antworten vorgegeben wie: »Beteilige Dich an gemeinschaftlicher Friedensarbeit in einer Gruppe«, »Übe Solidarität mit allen, die wegen ihres Friedensengagements im Gefängnis sind … Verbreite Informationen über sie«, »Erziehe Deine Kinder zur Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit und Toleranz« oder »Verweigere Dich allem, was der Militarisierung dient«.
Das Tafelwerk beinhaltete ferner Hinweise über die personelle Zusammensetzung der gewählten Volksvertretungen in der DDR (angeblich zu geringer Frauenanteil) sowie Problemstellungen aus der Arbeits- und Strafgesetzgebung der DDR. In den Gesprächen wurde u. a. angeregt, von den zuständigen Organen der DDR zu fordern: Ermöglichung der Teilzeitbeschäftigung für Frauen und Männer, Durchsetzung der Gleichberechtigung bezogen auf die Gewährung des Hausarbeitstages,25 weitere Einschränkung der Schichtarbeit für Frauen (gemäß §§ 160 (4), 185, 243 (2) Arbeitsgesetzbuch der DDR)26 sowie ein Unter-Strafe-Stellen der »Vergewaltigung innerhalb der Ehe« (§ 121 Strafgesetzbuch).27 Die Gibbels machte auf eine angebliche Schulreform in der DDR aufmerksam, von der die Bevölkerung keine Kenntnis habe. Dazu kam es zu einer intensiven Diskussion, in deren Verlauf ablehnende Positionen zur staatlichen Orientierung über die Berufsauswahl entsprechend gesellschaftlichen Erfordernissen, zu bestehenden Auswahlkriterien zum Besuch der Erweiterten Oberschule bzw. der Zulassungsordnung zum Studium eingenommen wurden.
Im Ergebnis der in der Arbeitsgruppe 2 geführten Diskussion wurde resümiert: Das in der DDR bestehende Frauenbild richte sich jeweils nur nach den ökonomischen Erfordernissen. Die Gesellschaft werde von Männern beherrscht. Der Leistungsdruck wachse ständig. Damit könne man sich nicht mehr abfinden, und die Strukturen in der Gesellschaft müssten verändert werden. Der vornehmlichste Weg dazu wäre der Weg der umfassenden Eingabetätigkeit.
Gesprächsgruppe »Kann man Verantwortung teilen?« – Leitung: Sigrid Köppen28
Ausgehend von der Fragestellung nach dem Sinn und den Grenzen von Frauengruppen wurde festgestellt, dass sich deren Sinn aus der Situation der Frau selbst ergebe. Frauengruppen stellen eine »separate Form zum Üben« dar, bilden gewissermaßen eine »Vorstufe«. Grenzen zeigen sich in der Wirksamkeit, sodass künftig mit gemischten Gruppen, die unter Leitung von Männern. stehen, zusammengearbeitet werden müsse. Das sei notwendig, um künftig »die eigentlichen Aktionen« nicht ausschließlich Männern zu überlassen.
Es wurde der Standpunkt vertreten, dass es für Frauengruppen nur eine »Gesamtverantwortung«, jedoch keine Trennung beispielsweise nach staatlicher und kirchlicher Verantwortung gäbe.
Ein Entzug aus der individuellen Verantwortung sei nicht möglich, weil man dann der »anderen Seite« überlasse, was geschehe (Man kann dem Staat nicht das Feld überlassen.) Verantwortung müsse demnach (auf unterer Ebene) überall und durch jeden übernommen werden, wozu auch gehöre, ständig auf die Existenz von »Frauenfriedensgruppen« aufmerksam zu machen, sich mehr zu akzentuieren. Andererseits solle man keine konkrete Verantwortung in staatlichen und kirchlichen »Institutionen« übernehmen, da diese in der Lage seien, Zwänge auszuüben, denen man sich nur schwer entziehen könne. Die Köppen schlussfolgerte, um besser wirksam werden und möglichen Sanktionen des Staates ausweichen zu können, seien Kompromisse notwendig. Dabei dürfe man seine »reale Haltung« nicht aufgeben.
Während der Diskussion wurde gleichfalls auf die »Feindbildproblematik« eingegangen und orientiert, die vom sozialistischen Staat aufgebauten »Feindbilder« durch Schaffung vielfältiger Kontakte zu Personen aus nichtsozialistischen Staaten zu unterlaufen.
Gesprächsgruppe »Verantwortung für die ganze Welt« – Leitung: Irena Kukutz-Bärbel Bohley
Vorbereitend waren auch für diese Gruppe inhaltliche Thesen erarbeitet und auf einem Plakat dargestellt worden, so u. a.
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»Frieden ist unteilbar«
(Aktive Friedenssolidarität schließt alle Teile der Welt ein, wo militärische Gewalt herrscht oder wo Völker von militärischer Gewalt bedroht werden)
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»Beendigung des Wettrüstens«
(Überwindung des Abschreckungssystems und militärischen Gleichgewichtsdenkens. Verweigerung der Rechtfertigung der Nach (nach) rüstung)
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»Neu definierte Entspannungspolitik«
(Basiert auf vielfältigen Kontakten, dem Abbau von Feindbildern, der Entspannungsdynamik von »unten«)
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»Überwindung der Teilung Europas«
(Blockteilung nährt Konfrontation – schrittweise Auflösung)
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»Volle Respektierung der Menschenrechte«
(Jede Verletzung, wo immer sie geschieht, gefährdet den Frieden, auch dann, wenn die Waffen schweigen)
Die Diskussion war wesentlich durch das negative Auftreten von Mitgliedern der Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin, insbesondere der Bohley und Kukutz geprägt, die ihre antisozialistischen Auffassungen, während bisheriger Aktivitäten gewonnene Erfahrungen und daraus resultierende Schlussfolgerungen weitervermittelten. Wiederholt versuchten sie, die Diskussion auf die Problematik der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu lenken. In diesem Zusammenhang wurde von ihnen gefordert,
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man müsse, wenn es notwendig sei, Verantwortung bis zur letzten Konsequenz (auch Haft) tragen,
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man müsse noch mehr aus der Anonymität heraus und in die Öffentlichkeit gehen,
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alle Bindungsfaktoren an den Staat abzubauen, um unbefangen an die Übernahme von Verantwortung heranzugehen,
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jedoch alle sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen, um mit staatlichen Stellen in Kontakt zu kommen, um die eigenen oppositionellen Positionen darzulegen und sich letztlich selbst einem offiziellen Status näherzubringen. (Hierzu verwies die Bohley auf einen Briefwechsel ihrer Gruppe mit dem Komitee »Ärzte der DDR zur Verhinderung eines Nuklearkrieges«,29 im Ergebnis dessen ein Gespräch über »interessierende Fragen« vereinbart wurde, das als Beginn eines möglichen Dialogs auf dieser Ebene angesehen werde.)
Die Teilnehmer dieser Gesprächsgruppe wurden in ihrer feindlich–negativen Haltung durch das Auftreten von Generalsuperintendent Krusche bestärkt. Während eines kurzen Besuches (ca. 10 min) brachte er u. a. zum Ausdruck: »Ich sehe, euch geht es gut; die Veranstaltungen sind mit Gottesdiensten durchsetzt, Negatives konnte ich nicht feststellen. Also kann uns auch nichts passieren«.
Er informierte über seine Reise nach Großbritannien und über Kontakte mit einer dortigen Frauenfriedensgruppe. Mit der Bemerkung »Ich soll euch Grüße übermitteln und haltet durch« übergab er der Bohley ein Buchgeschenk mit Widmung dieser englischen Frauengruppe sowie Zeitschriften (Krusche weilte auf Einladung des britischen Kirchenrates vom 2. bis 18. Februar 1985 in Großbritannien. Dort besuchte er u. a. das sogenannte Frauencamp »Greenham Common«30 in der Nähe eines Militärstützpunktes).
Die Gruppenarbeit wurde durch ein Podiumsgespräch und einen theologischen Vortrag von Pastorin Mayer unterbrochen.
Während des Podiumsgesprächs nahmen die Gesprächsleiterinnen der vier Arbeitsgruppen eine Zwischeneinschätzung vor und legten die erarbeiteten Positionen dar. Damit erfolgte ein Informationsaustausch für alle beteiligten Personen, der Grundlagen für eine einheitlichere Fortsetzung der Diskussion schuf (Ein analoges Vorgehen wurde bereits auf dem sogenannten Friedensseminar von »Friedenskreisen« im März 1985 in Schwerin praktiziert.)31
Pastorin Mayer referierte zum Thema »Unsere Heimat ist im Himmel?« Ausgehend von realistischen Positionen bemühte sie sich um theologische Reflektion dieses Themas im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse in der DDR. Der Vortrag beinhaltete die Deutlichmachung der Verantwortung der Christen aus biblischem Verständnis zur Gemeinsamkeit mit Marxisten auf der Grundlage der Verfassung der DDR.
Die Teilnehmer des Treffens reagierten ablehnend auf die Darlegungen der Mayer, einige verließen den Raum vorzeitig, andere störten durch Zwischenrufe und Geräusche. In einer anschließenden Diskussion, während der erneut Mitglieder der Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin vordergründig in Erscheinung traten, wurde massiv gegen Aussagen der Mayer polemisiert. Im Mittelpunkt standen dabei Angriffe gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR. Die Poppe äußerte, Pastorin Mayer habe den Vortrag »für die gehalten, mit denen wir eigentlich nichts zu tun haben wollen«.
Am 31. März 1985 wurde das Treffen – geleitet von der Bohley – im Plenum aller Teilnehmer fortgeführt.
Seitens der Teilnehmer wurden Vorschläge, Schlussfolgerungen und Vorstellungen hinsichtlich der weiteren Arbeit der Frauengruppen unterbreitet. Sie stellen wesentliche Ergebnisse der Diskussion in den Arbeitsgruppen dar, wurden in der Mehrzahl von den Anwesenden akzeptiert und lassen damit eine einheitlichere Ausrichtung dieser Kräfte hinsichtlich weiterer Aktivitäten erwarten. Auch hier traten vordergründig Mitglieder der Gruppe um die Bohley in Erscheinung. Folgende Absichten wurden popularisiert-bekannt gegeben:
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Installierung sogenannter Bildungsseminare in allen Territorien der DDR nach dem Vorbild der sogenannten fliegenden Universitäten konterrevolutionärer Kräfte in der VR Polen;32
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Schaffung von »Frauenstützpunkten« in Wohngebieten als »Zusammenkunftsobjekte gleichgesinnter Familien«;
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Nutzung aller Formen gesellschaftlicher Organisationsmöglichkeiten für die Tarnung des eigenen politischen Wirkens und Nutzung öffentlicher Veranstaltungen zur Artikulierung politischer Auffassungen;
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Bestätigung der Bärbel Bohley als sogenannte Koordinierungsperson für alle Frauengruppen, die ihrerseits konkrete »Verbindungsfrauen« benennen sollen;
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Profilierung einer Person (sogenannte Litfaßsäule), die als zentrale Informationsstelle für alle Frauengruppen fungiert (Hinweise zu Inhaftierungen, staatlichen Gegenmaßnahmen und dergleichen) und gleichzeitig für den Informationsaustausch mit Kräften im Ausland verantwortlich ist (Vorliegenden internen Informationen zufolge planen feindlich-negative Kräfte das Projekt »Litfaßsäule« für alle bestehenden feindlich-negativen Gruppierungen auszubauen.);
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in Verantwortung der Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin wird ein Protokoll über Inhalt und Verlauf des Frauentreffens erarbeitet und allen Gruppen in der DDR sowie »Bezugspersonen« in nichtsozialistischen Staaten zur Verfügung gestellt;
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entsprechend dem bereits in Halle 1984 festgelegten Modus, halbjährlich Folgetreffen durchzuführen, wurde auf ein derartiges Treffen im Spätsommer-Herbst 1985 orientiert (Konkrete Festlegungen bezogen auf Termin und Ort wurden aufgrund bestehender organisatorischer Probleme nicht getroffen. Die Mehrzahl der Frauengruppen in den Bezirken verfügt derzeit noch nicht über die organisatorischen Voraussetzungen und auch praktischen Erfahrungen, ein derartiges zentrales Treffen durchzuführen.).
Das Plenum wurde von feindlich-negativen Kräften genutzt, um gezielt auf weitere Aktivitäten ihrer Gruppen aufmerksam zu machen, die Teilnehmer zur Nachahmung zu inspirieren, politische Konzeptionen zu verbreiten.
So verteilte die Bohley Kopien eines Briefes, der anlässlich des Internationalen Frauentages 1985 als »gemeinsamer Brief von Frauen aus Ost und West« in westlichen Massenmedien veröffentlicht wurde und forderte zur Sammlung von Unterschriften dazu auf (Dieser Brief ist nach dem MfS streng intern vorliegenden Informationen Bestandteil einer »blockübergreifenden« Aktion von »Friedenskräften« im Zeitraum vom 8. März 1985 bis zum sogenannten Weltabrüstungstag der Frauen am 25. Mai 1985).33
Unterschriften der Teilnehmer des Treffens wurden ferner geleistet auf einem 50 x 100 cm großen Tuch mit der Aufschrift »Frauenfriedensseminar« und dem biologischen Symbol der Weiblichkeit (Kreis mit umgekehrtem Kreuz). Dieses Tuch soll in die USA verbracht werden und im Rahmen der Aktion »Frauenfriedensbewegung« am 6. August 1985 in eine Tuchkette um das Pentagon in Washington eingebunden werden.
Weiterhin wurde allen Teilnehmern ein Pamphlet verleumderischen Inhalts gegen den 40. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes zugänglich gemacht (vgl. Anlage). Bei dem Verfasser handelt es sich um einen dem MfS bekannten Pfarrer, der wiederholt feindlich-negativ in Erscheinung getreten ist. Dieses Pamphlet wurde durch eine Mitorganisatorin des Frauentreffens in Abstimmung mit der Bohley und deklariert als Eingabe an die vom 12. bis 16. April 1985 tagende Synode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg versandt.34
Während des Plenums wurde aufgerufen zur Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung am 27. April 1985 in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück35 und Beteiligung am sogenannten Nachtgebet der Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin am 22. Mai 1985 in der Auferstehungskirche Berlin-Friedrichshain.36
Die Organisatoren versuchten, mit eigenen Mitteln und Möglichkeiten das Frauentreffen kulturell zu umrahmen. Ihre Vorhaben, bekannte Schriftsteller zu gewinnen (u. a. Christa Wolf),37 konnten sie nicht verwirklichen. So kam es nur zu Lesungen von Nachwuchsschriftstellerinnen (u. a. der hinlänglich bekannten Gabriele Kachold38 aus Erfurt) bzw. von Frauen, die sich literarisch versuchen, aber auch durch die Organisatoren selbst.
Verwendung fanden eigene Texte bzw. Texte der Weltliteratur, die politisch verbrämt zusammengestellt waren und insgesamt den politisch negativen Zielvorstellungen der Organisatoren entsprachen. Darüber hinaus wurden Volksliedersingen organisiert, Instrumentalbeiträge und Puppenspiele dargeboten.
Bezogen auf Verlauf und Ergebnisse des Treffens der sogenannten Frauenfriedensgruppen liegen dem MfS bisher folgende streng vertrauliche Reaktionen vor:
Die Organisatoren bemängelten das Niveaugefälle zu den Frauengruppen in den Bezirken, sodass Probleme der »blockübergreifenden Friedensbewegung« noch auf zu wenig Verständnis stießen (Ähnlich äußerte sich auch der hinlänglich bekannte Lutz Rathenow39 mit dem Verweis darauf, dass Teilnehmer des Treffens offensichtlich überfordert worden seien.). Die Bohley vertrat dem gegenüber die Auffassung, nicht mehr erwartet zu haben; für sie sei das erneute Zusammenkommen in diesem Kreis und das weitere Kennenlernen gegenwärtig noch wichtiger.
Die ehemalige Bundestagsabgeordnete der Partei »Die Grünen« der BRD, Potthast, stellte zum Treffen nachträglich intern fest,
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dass es eine gelungene Veranstaltung gewesen sei, die Zeichen gesetzt habe, und auf deren Grundlage ein Ausbau der Basis möglich sei;
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Edi_Liste1-die im Entstehen begriffene »Emanzipationsbewegung« in der DDR als ein Bestandteil der »Friedensbewegung« gesehen werden müsse und auch in diese zu integrieren sei;
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in Zukunft verstärkte Aktivitäten zur Erweiterung des Aktionsradius der »Emanzipationsbewegung« in der DDR unternommen werden müssen, wofür durch die »westeuropäischen Freunde« jegliche Unterstützung zugesagt werden könne;
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es künftig darauf ankomme, auf der Grundlage gemeinsamer Positionen – ausgehend von den Gegebenheiten – Aktionen durchzuführen und nicht einfach die der Gegenseite zu kopieren.
Der Direktor der Stephanus-Stiftung, Pastor Braune, erklärte, einem derartigen Personenkreis sein Objekt nicht mehr zur Verfügung stellen zu wollen. Ausschlaggebend für diese Haltung sei das teilweise dekadente, unordentliche und undisziplinierte Verhalten der Teilnehmer des Treffens.
Am 8. April 1985 fand auf der Grundlage eines Vermerks von Pastor Braune im Kollegium des Evangelischen Konsistoriums der Evangelischen Landeskirche in Berlin-Brandenburg in Anwesenheit von Bischof Forck eine Auswertung des Frauentreffens statt. Es berichteten Pastor Braune und Pastorin Mayer. Letztere wurde beauftragt, einen detaillierten Bericht über Verlauf und Ergebnisse dieser Veranstaltung zu fertigen und dem Kollegium vorzulegen.
In Auswertung gewonnener Erkenntnisse im Zusammenhang mit dem Treffen sogenannter Frauenfriedensgruppen vom 29. bis 31. März 1985 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, wird vorgeschlagen:
- 1.
Zur wirksamen Unterbindung der feindlich-negativen Aktivitäten der Gruppe »Frauen für den Frieden« Berlin um Bärbel Bohley und zur vorbeugenden Verhinderung der weiteren Herausbildung einer Basis für die Existenz einer »alternativen Frauenbewegung« sollte geprüft werden, in gemeinsamen Beratungen der Parteiorgane mit den zuständigen und weiter einzubeziehenden staatlichen Organen, Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen und Kräften prinzipielle Überlegungen anzustellen und Entscheidungen zu treffen, in welcher Richtung und wie die weitere offensive politische Auseinandersetzung mit diesen Kräften zu erfolgen hat.
- 2.
Der Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR, Genosse Gysi, sollte in einem Grundsatzgespräch mit Bischof Forck diesen darauf hinweisen, dass die staatliche Erwartungshaltung zum Frauentreffen gröblichst missachtet wurde, indem die Kirche durch Inkonsequenz, Toleranz und – bezogen besonders auf Generalsuperintendent Krusche – durch deutliche moralische Unterstützung feindlich-negativen Kräften Tür und Tor geöffnet hat. Dies stelle eine ernste Belastung in den Beziehungen Staat – Kirche dar. Eine Wiederholung derartiger politisch-negativ geprägter Veranstaltungen in kirchlichen Einrichtungen könne seitens des Staates nicht mehr geduldet werden.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 152/85
Erziehung zur Befreiung
Der Tag der Befreiung wird nach Jahren wieder gefeiert. Wie groß ist die Distanz zu dem, was war? Wer ist angesprochen?
Der Prozess um Jalta40 – nur ein Zeitungsthema? Was entwickelt sich nach dem Umkippen der Antihitlerkoalition in feindliche Bündnisse? Wie fern ist uns die Vertreibung von Millionen Europäern von ihrer sozialen, kulturellen, geographischen Heimat? Wir meinen, dass dies Fragen sind, über die Verständigung sich lohnt.
Wir fragen genauer:
Lässt sich Befreiung im historischen Rückblick auf den Prozess der militärischen Zerschlagung des Hitlerfaschismus und Entnazifizierung reduzieren? Also: Auf eine Befreiung »von« etwas. Oder müsste nicht mit hiesiger und heutiger Verantwortung auch nach der Befreiung »wozu« bzw. »wohin« gefragt werden?
Damit kommt ein kontinuierlicher Befreiungsprozess nur Mündigkeit in den Blick. Wir könnten fragen:
Was ist von der »Deutschen Misere« aus Obrigkeitsdenken und Untertanenmentalität und Minderheitenverfolgung wirklich überwunden?
Haben nicht diese Haltungen ihren Platz im Gesellschaftskörper behaupten können?
Das deutsche Volk hat ein Mörderregime erduldet und getragen – ohne Selbstbefreiung – bis zuletzt. Dabei gab es Ansätze befreiender Mündigkeit. Die Scholls, Bonhoeffer, Ossietzky, Mühsam und Stauffenberg41 blieben isoliert. Aber es gab sie. Es gibt befreiende Mündigkeit unter Deutschen.
Was geschah zur wirklichen Bewältigung gewesenen politischen Verhaltens, von ganz konkret erfahrbarer Schuld? Entnazifizierung, Sowjetfreundschaft und Antifaschismus als Staatsdoktrin – bis wohin erreichen sie uns wirklich? Was ist mit kolonialem Denken, Monumentalindustrie, Vermischung von Gesellschaft und Staat?
Bilden nicht Bündnisabhängigkeit, Machtmissbrauch der Regierenden und unmündiges Verhalten der Bürger einen Kreis, der die nachzuholende Selbstbefreiung der Befreiten verhindert? Souveräner Staat und unmündige Bürger – wie passt das zusammen?
Es ist Zeit, dass wir dafür rechenschaftsfähig werden. Diese Fragen lassen sich nicht wegdelegieren. Könnte solch ein Prozess vielleicht eine Aufgabe für Schalom-Gruppen42 sein, an einer »Pädagogik der Befreiung« (Paulo Freire) im DDR-Kontext zu arbeiten?
Das wäre ein Beitrag, die Schuld der Vergangenheit als eigene Schuld zu übernehmen. Vielleicht schließen sich Landessynoden und Kirchenbund an? Unserer Meinung nach sollte ein politisches Bildungskonzept entwickelt, gefördert werden, das »Lernen auf Befreiung« in Gang setzt.
Infrage kommen können Gemeindearbeit, Kinder-Jugendarbeit, Evangelische Akademie und Seminare.